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Anne Will: Kommt eine neue Antisemitismus-Welle?


Auschwitz-Überlebende bei Anne Will
"Der Antisemitismus war immer da"

Meinungt-online, Nico Damm

Aktualisiert am 29.01.2018Lesedauer: 3 Min.
Esther Bejarano, Künstlerin und Auschwitz-Überlebende in Berlin während der Fernsehsendung "Anne Will" zum Thema "Holocaust-Gedenken - wie antisemitisch ist Deutschland heute?".Vergrößern des Bildes
Esther Bejarano, Künstlerin und Auschwitz-Überlebende in Berlin während der Fernsehsendung "Anne Will" zum Thema "Holocaust-Gedenken - wie antisemitisch ist Deutschland heute?". (Quelle: dpa-bilder)

Die Auschwitz-Überlebende Bejarano erzählt ihre Geschichte – und zeichnet ein düsteres Bild von der Lage der Juden in Deutschland. Haben die Deutschen aus der Geschichte gelernt?

Gäste:

- Esther Bejarano, Künstlerin und Auschwitz-Überlebende

- Monika Grütters (CDU), Staatsministerin für Kultur und Medien

- Sawsan Chebli (SPD), Berlins Staatssekretärin für Bürgerschaftliches

Engagement und Internationales

- Wenzel Michalski, Direktor Human Rights Watch Deutschland, Sein

Sohn wurde antisemitisch angegriffen.

- Julius H. Schoeps, Historiker und Politikwissenschaftler

Das Thema:

Dieser Tage wird in Deutschland der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Bei "Anne Will" berichtet die 93-jährige Holocaust-Überlebende Esther Bejarano, was in Auschwitz geschah und wie sie das Grauen überleben konnte. Die umtriebige Musikerin engagiert sich nach wie vor gegen Antisemitismus. Haben die Deutschen aus der Geschichte gelernt?

Kommt mit der Zuwanderung eine neue Welle des Antisemitismus? Und was lässt sich gegen Übergriffe auf Juden und gängige Vorurteile tun? Mit diesen Leitfragen kam Anne Will in die Sendung.

Ein Gast mit bewegender Geschichte

Nicht nur das ernste Thema, auch die Besetzung der Runde machte schnell klar: Das war kein gewöhnlicher Talk-Abend. Der große Respekt vor dem Lebenswerk Bejaranos war sehr präsent. Der wuchs noch, als die aus Saarbrücken stammende Jüdin ihre Geschichte erzählte: Ihre Eltern wurden von den Nazis erschossen, ihre Schwester in Auschwitz ermordet. Das erfuhr sie allerdings erst 74 Jahre später, im Jahr 2016. Bejarano rettete sich in Auschwitz vor dem Tod, indem sie vorgab, Akkordeon spielen zu können. Sie bekam einen Platz im Mädchen-Gefangenenorchester.

Gerade ist die rüstige Dame in Deutschland auf Tournee – und fand, es sei hier nicht besser geworden. "Wir haben ganz viele Nazis hier rumlaufen." Es habe keine Entnazifizierung gegeben. Bejarano erinnerte etwa an den Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze, Hans Globke, der unter Bundeskanzler Adenauer das Bundeskanzleramt leitete. Warum sie dennoch 1960 nach Deutschland zurückkehrte? "Wir hatten keine andere Wahl." Ihrem Mann drohte in Israel der Kriegsdienst, sie habe das Klima nicht vertragen, und sie sprach Deutsch. Acht Jahre später musste ihr Mann seine Diskothek in der Nähe von Hamburg aufgrund von antisemitischer Anfeindungen schließen. "Ich war so entsetzt."

Die Diskussion:

Grütters war der Meinung, man tue "ehrlichen Herzens sehr viel" gegen Antisemitismus. Schließlich besuchten über fünf Millionen Menschen jährlich Gedenkstätten wie Buchenwald. Michalski war anderer Meinung.

"Es wird sehr viel darüber geredet, aber nicht genug getan." Er sehe "Parallelen zu 1933". Wenn Schulklassen KZs besuchten, verpuffe der Effekt, wenn dies nicht pädagogisch begleitet werde. "Der Antisemitismus war immer da", sagte Schoeps. Das sei ein "Riesenproblem". 15-20 Prozent der Bevölkerung habe antisemitische Einstellungen. Das liege allerdings im europäischen Durchschnitt. Auch Chebli sah einen gleich stark gebliebenen Antisemitismus, das zeigten aktuelle Zahlen des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Bundestags. Der israelbezogene Antisemitismus habe "definitiv zugenommen". Man tue aber im Rahmen von Aufklärungsarbeit auch etwas: "Das Wachhalten der Erinnerungen ist eine existenzielle Frage." Grütters verlor im Laufe der Sendung etwas von ihrem Optimismus. Soziale Netzwerke ermöglichten die Pflege von Ressentiments. "Es ist wieder mehr erlaubt als das, was wir jahrzehntelang gelernt haben."

Aufreger des Abends:

Heftig gestritten wurde in der Runde nicht. Wohl aber respektvoll Differenzen angesprochen. Größter Streitpunkt: Der Vorschlag Cheblis, für Schüler den Besuch in KZ-Gedenkstätten verpflichtend zu machen.

Chebli sieht ein Wiedererstarken des Antisemitismus, was auch mit der Sozialisierung von Migranten zu tun habe. Da müsse die Schule etwas entgegensetzen. "Es ist ein Unterschied, ob ich ein Buch aufschlage oder in eine Gedenkstätte gehe." Bejarano widersprach: "Mit Pflicht kann man das nicht machen. Das muss von innen heraus kommen." Michalski sah eher die Schulen in der Pflicht: Wenn ein 14-Jähriger Mitschüler als "blöder Jude" beschimpfe, müssten Lehrer besser darauf reagieren können. Der Menschenrechtsaktivist spricht aus Erfahrung – er nahm seinen Sohn aus einer Schule, nachdem er von türkisch- und arabischstämmigen Mitschülern gequält worden war. Trauriger Höhepunkt sei eine Scheinhinrichtung gewesen. Die Klassenlehrerin hätte sich stark für seinen Sohn eingesetzt, die Schulleitung jedoch nicht. Er kenne viele ähnliche Fälle.

Was übrig bleibt:

Allein in Berlin wechseln jedes Jahr rund acht Schüler auf das jüdische Mendelssohn-Gymnasium, weil sie in ihren Klassen gemobbt wurden. Was Michalski berichtete – von den Erfahrungen seines Sohnes ganz zu schweigen – ließ den Zuschauer etwas ratlos zurück. Gerade nach den erschütternden Erzählungen Bejaranos taten sich erschreckende Parallelen auf. Was ist schiefgelaufen die vergangenen Jahrzehnte? Hier konnte die Runde kaum Antworten liefern. Nur so viel schien klar: Sich immer wieder zu erinnern, ist Teil der Lösung. Und eine frühzeitige, qualifizierte Arbeit mit jungen Menschen. Auf die Zuwanderung aus muslimisch geprägten Ländern allein kann man die Zunahme des Antisemitismus übrigens nicht schieben: 90 Prozent der antisemitischen Straftaten werden von Rechten begangen.

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