Erdogans Feinde Wer steckt hinter der Gülen-Bewegung?
Sie sind die netten Türken, die höflichen, die gebildeten. Die Anhänger der Gülen-Bewegung - zumindest aus deutscher Sicht. Deshalb pflegen sie hier gute Kontakte zu Politikern auf kommunaler Ebene und sind gern gesehene Gäste in Talkshows. Sie gelten als wichtiger Motor der Integration und sind bestens vernetzt. Ein Wolf im Schafspelz? Eine Geheimorganisation, die nach der islamistischen Weltherrschaft strebt?
Seit dem Putsch in der Türkei sind die Anhänger des Predigers Fetullah Gülen in den Fokus gerückt. Denn Erdogan bezichtigt Gülen, für den Staatsstreich verantwortlich zu sein, dieser bestreitet das, verurteilte per Video den Putsch sogar. Schon 2013 entfernte Erdogan einige Gülen-Leute aus deren Ämtern. Sein Vorwurf ist, dass sie Parallelstrukturen errichten wollten.
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Die Gülen-Anhänger sind jetzt zur Zielscheibe von Erdogans AKP geworden und ihre Geschäfte zum Opfer von Anschlägen. Es gibt, so heißt es - in den sozialen Medien Aufrufe, nicht mehr bei Gülen-Leuten einzukaufen. Von Einschüchterung und Säuberung ist die Rede, auch in Deutschland.
"Gandhi" gegen "Sultan"
Wer das Verhältnis dieser verfeindeten Gruppen verstehen will, muss in die Beziehung dieser zwei Männer eintauchen, die einst Weggefährten waren und zu Rivalen wurden: dem "Gandhi des Islam", Fethullah Gülen, und dem "türkischen Sultan", Recep Tayyip Erdogan.
Weltfriede, Integration, Toleranz, Nächstenliebe, interreligiöser Dialog, gesellschaftliches Engagement - wer könnte etwas gegen die Werte sagen, die immer wieder als Schlüsselbegriffe in Gülens Reden und Predigten auftauchen.Rund zehn Millionen Anhänger soll der 75-Jährige aus Ostanatolien, der seit 1999 in den USA im Exil lebt, haben. "Hizmet" - "Dienst" heißt seine Bewegung, die in den 1970er Jahren in der Türkei entstand und heute in 170 Ländern aktiv ist. Ursprünglich ging es Hizmet darum, im ländlichen Raum Versorgungslücken in Bildung, Information und Gesundheit zu schließen.
Bildung und Dialog sind seine Hauptanliegen. Nach dem Motto "Schulen statt Moscheen" sind zuerst in den Turkstaaten der früheren Sojetunion, auf dem Balkan, in Pakistan, Nordirak, Kambodscha, Thailand, Afrika, dann weltweit Privatschulen entstanden.
Das Netzwerk der Gülen-Bewegung in Deutschland
Rund 150.000 Menschen gehören in Deutschland der Gülen-Bewegung Hizmet an. Es gibt rund 50 Privatschulen, etwa 300 Bildungsvereine und Nachhilfe-Institute, Kindertagesstätten und "Lichthäuser", das sind Wohngemeinschaften für muslimische Studenten. Alles aus Spenden oder Schulgeld finanziert. Zielgruppe sind erfolgsorientierte Leistungsträger. Viele hätten das Gefühl, ihre Kinder seien im staatlichen deutschen Schulsystem benachteiligt, das Schulgeld für begabte Kinder aus ärmeren Familien wird häufig übernommen. Auf dem Lehrplan steht Ethik, nicht Islam. Auch sonst orientieren sich die Lerninhalte am staatlichen System. Wer in den Genuss der Förderung seiner Kinder kommen möchte, verpflichtet sich als Mitglied.
Die Bewegung umwirbt die Türken in Deutschland mit eigenen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Oder organisiert Konferenzen und bietet sich als Gesprächspartner an.
"Wir erhalten Hassbotschaften"
Die "Stiftung Bildung und Dialog" versteht sich in Deutschland als Sprachrohr der Gülen-Bewegung und der Muslime - mit Alleinvertretungsanspruch. Vorsitzender der Stiftung ist der in Deutschland geborene Soziologe Ercan Karakoyun.
Die Bewegung fühlt sich in Deutschland von Anhängern des türkischen Staatspräsidenten bedroht. "Wir erhalten immer noch Hassbotschaften, wir nehmen diese Drohungen sehr ernst, wir glauben nicht, dass diese Welle der Aggression jetzt vorbei ist", sagte der Stiftungschef. Jugendtreffs würden belagert, er selbst habe Morddrohungen erhalten, es gebe Boykottaufrufe gegen Geschäfte, der Zutritt zur Moschee würde Gülen-Leuten verwehrt. Die Gülen-nahe Bil-Schule in Stuttgart habe um Polizeischutz ersucht. "Auch ich persönlich habe Morddrohungen erhalten", sagte Karakoyun. Er habe deshalb auch schon Anzeige erstattet. Ein türkischstämmiger junger Mann aus Hamburg habe ihm in einer Facebook-Nachricht geschrieben, "denk nicht, dass du hier sicher bist"
Das Gülen-Netzwerk in der Türkei
Zu dem Netzwerk gehören in der Türkei außerdem Versicherungen, die private Fatih-Universität in Istanbul mit über 100.000 Studenten, Medienhäuser, Kliniken, Bildungseinrichtungen und Unternehmerverbände.
"Islam light" oder islamischer Chauvinismus?
Gülen, der in Pennsylvania mit rund 100 Anhängern lebt, hat mehr als 60 Bücher verfasst und verbreitet seine Ideen in Reden und Artikeln.
Gülens Lehren wurden als eine Art "Islam light" bezeichnet - äußerlich. Nach innen hingegen sei es islamischer Chauvinismus, schreibt zumindest die deutsche Islamkritikerin Necla Kelek. Seiner Bewegung wird auch von anderen Nationalismus und Islamismus angelastet, seine Anhänger würden, so der Vorwurf, die Behörden, den Polizeiapparat und die Justiz infiltrieren.
Laut der amerikanischen Soziologin Helen Rose Ebaugh vertritt Gülen einen modernen türkischen Nationalismus sowie freie Marktwirtschaft und betont die Bedeutung der Bildung. Seine Lehre hat sich allerdings im Lauf der letzten 40 Jahre mehrfach gewandelt. Er lehnt Darwins Evolutionstheorie ab, verurteilt den Atheismus und stellt den Islam über die menschgemachte Demokratie. Frauen müssten sich nicht verschleiern, allerdings tragen viele seiner Anhängerinnen freiwillig Kopftuch.
"Bis ihr die gesamte Staatsmacht an Euch gerissen habt"
Zum Zerwürfnis mit Erdogan führte eine heimlich gefilmte Rede und deren Veröffentlichung. Darin sagte Gülen: "Ihr müsst in die Arterien des Systems eindringen, ohne dabei bemerkt zu werden. Ihr müsst warten, bis der richtige Moment gekommen ist, bis ihr die gesamte Staatsmacht an Euch gerissen habt. Wenn wir voreilig handeln, wird die Welt uns die Köpfe einschlagen, Muslime überall werden leiden. Es wäre, wie ein Ei zu zerbrechen, ohne die 40 Tage zu warten, bis das Küken schlüpft.“
Dadurch, dass er seit 1999 in den USA lebt, entging der Prediger einem Gerichtsverfahren wegen Republikverrats.
Kritik an der Gülen-Bewegung
Der Gülen-Bewegung wird mangelnde Transparenz bei Finanzierung und Strukturen vorgeworfen. Die Gruppe trägt Züge einer Sekte. Bundestagsabgeordnete untersuchten die Übereinstimmung mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder verlangten eine Prüfung durch den Verfassungsschutz.
2014 hatte sich das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg mit den Bestrebungen der Gülen-Bewegung auseinandergesetzt. Fazit des Abschlussberichts - trotz Widersprüchen und Ambivalenz: "Dementsprechend gibt es derzeit keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, dass die Gülen-Bewegung mit ihren Aktivitäten verfassungsfeindliche Bestrebungen in Baden-Württemberg verfolgt."