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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schulleiterin kritisiert "Das ist eine Schande"
Gibt es in Deutschland eine Inflation des Abiturs? Was sollten Eltern tun, deren Kind die Schule geschmissen hat? Ein Gespräch mit der Leiterin eines Weiterbildungskollegs.
Wanda Klee ist seit 2017 Schulleiterin des Westfalen-Kollegs in Dortmund und Mitglied im Vorstand des Bundesrings der Kollegs, dem Bundesverband aller Weiterbildungskollegs. Hier können Erwachsene ihr Abitur nachholen. Voraussetzung: Man muss mindestens 18 Jahre alt sein, einen mittleren Schulabschluss haben und entweder eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine mindestens zweijährige Berufstätigkeit vorweisen.
t-online: Immer mehr junge Menschen in Deutschland machen Abitur. 1970 war das noch jeder Zehnte, inzwischen ist es fast jeder oder jede Zweite. Wird das Abitur verramscht?
Wanda Klee (lacht): Entschuldigung, aber da muss ich lachen. Man muss sich doch mal die Frage stellen: Warum ist das Abitur jetzt Ramschware, nur weil es mehr Menschen erwerben? Das Gegenteil ist der Fall: Die zentralen Prüfungen sind fast überall verschärft worden.
Die Intelligenzverteilung ist aber ja mehr oder weniger gleich geblieben. Wie kann es dann sein, dass trotzdem mehr Kinder das Abitur schaffen und auch noch mehr mit einem Einser-Durchschnitt?
Der Hauptgrund ist: Kinder aus Familien mit geringerer Bildung haben heute etwas leichter Zugang zum Gymnasium als früher. Aber bei Weitem noch nicht oft genug. Ein persönliches Beispiel: Meine Mutter war alleinerziehend, wir hatten nicht viel Geld, einen Vater gab es nicht. Deshalb riet ihr meine Grundschullehrerin ab, mich auf den gymnasialen Zweig unserer örtlichen Gesamtschule zu schicken. Trotz guter Leistungen, weil ich den "sozialen Anforderungen" nicht entspräche. Meine Mutter war glücklicherweise hartnäckig und schickte mich aufs Gymnasium, wo ich einen sehr guten Abschluss machte und anschließend studierte. Leider ist bis heute der familiäre Hintergrund oft entscheidend für den Bildungsweg eines Kindes. Das ist eine Schande.
Sie sind Leiterin eines Weiterbildungskollegs, an dem junge Menschen ihr Abitur oder die Fachhochschulreife nachholen können. Welche Folgen hat die erhöhte Zahl der Abiturabschlüsse für Sie?
Zu uns kommen ja die, die es im ersten Anlauf nicht geschafft haben. Durch die steigende Zahl der Abiturabschlüsse wird auch deren Zahl kleiner. Das ist aber nur einer von mehreren Gründen. Außerdem sehen wir, dass sich diese Klientel verändert.
Inwiefern?
Nehmen wir meinen Amtsvorgänger an der Spitze des Westfalen-Kollegs. Jahrgang 1952, gelernter Schlosser. Er hat dann Anfang der 70er-Jahre am Westfalen-Kolleg sein Abitur nachgeholt, studiert und ist 1982 als Lehrer ans Kolleg zurückgekehrt. Ende der 90er wurde er dort Schulleiter. Die Schulen des zweiten Bildungswegs sind darauf ausgelegt, Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder mindestens zweijähriger Berufserfahrung eine Chance zu geben, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Darauf sind auch die Aufnahmekriterien der Einrichtungen des zweiten Bildungswegs ausgerichtet.
Aber die Situation ist heute anders?
Ja, viele von denen, die kein Abitur haben, haben sehr vielschichtige Bildungsbiografien. Häufig spielen psychische Erkrankungen beim Abbruch eine Rolle. Wir brauchen andere Zugangskriterien.
Welche?
Ich halte es für falsch, eine Berufsausbildung oder zwei Jahre berufliche Erfahrung zur Voraussetzung für den Zugang zum zweiten Bildungsweg zu machen. Ausnahmen von dieser Regel sind nur selten möglich. Meiner Ansicht nach reicht es, ein Jahr Pause oder Berufstätigkeit zwischen dem Schulabgang und der Bewerbung um eine Aufnahme an ein Weiterbildungskolleg einzufordern. In dieser Zeit haben die jungen Menschen Gelegenheit, herauszufinden, woran es gemangelt hat und wie sie sich orientieren wollen.
Die Schulleiterin
Dr. Wanda Klee ist seit 2017 Schulleiterin des Westfalen-Kollegs, an dem das Abitur nachgeholt oder eine Fachhochschulreife erworben werden kann. Zuvor war sie unter anderem als Lehrerin für Französisch und Englisch sowie als pädagogische Mitarbeiterin im nordrhein-westfälischen Schulministerium (Schwerpunkt: zweiter Bildungsweg) tätig. An die eigene Schulzeit hat sie gute Erinnerungen, nur an den Sportunterricht nicht.
Was motiviert Menschen, es nach einem verpatzten Schulabschluss noch einmal über den zweiten Bildungsweg zu probieren?
Die Motivation ist unterschiedlich. Viele stellen fest, dass sie an eine Gehaltsdecke stoßen, sich beruflich nicht mehr weiterentwickeln können. Darunter viele Frauen, die in medizinisch-technischen Berufen tätig sind. Deshalb nehmen sie den Stress auf sich, neben ihrer Arbeit noch einen höheren Abschluss zu machen. Andere haben die Schule abgebrochen, weil sie keinen Bock mehr hatten. Sie stellen dann fest, dass Rumjobben nicht das ist, was sie eigentlich möchten. Und dann haben wir eine wachsende Gruppe von Migranten, darunter viele Flüchtlinge, die einfach keine Zeit hatten, sich um ihre Bildung zu kümmern. Weil sie zum Beispiel die Familie ernähren mussten. Wenn sie in unserer Gesellschaft Fuß gefasst haben, wächst oft der Wunsch, eine bessere berufliche Bildung nachzuholen.
Auch um die Notenvergabe ist inzwischen eine Diskussion entbrannt. Einige Pädagogen halten sie für das falsche Instrument.
Das sehe ich genauso. In der Pädagogik hat sich inzwischen das "4-K-Modell" etabliert und ist inzwischen auch in den Kultusministerien angekommen. Es wurde von einer amerikanischen Initiative entwickelt und kommt zu dem Schluss, dass Kreativität, Kooperation, Kommunikation und kritisches Denken die vier Schlüsselkompetenzen für Bildung im 21. Jahrhundert sind. Im deutschen Bildungssystem kommen Kreativität und kritisches Denken wenig vor, zumindest nicht bei den zentralen Abitur-Abschlussprüfungen. Die beiden anderen Kompetenzen sind bei Prüfungen verboten. Wer löst denn heutzutage noch Probleme, indem er vier Stunden lang allein handschriftliche Analysen verfasst?
Wird dieser Trend durch Künstliche Intelligenz noch verschärft?
Die Künstliche Intelligenz stellt viele klassischen Strukturen infrage. Für unser Bildungssystem ist das aber auch eine Chance: Ich hoffe, dass die KI dazu führt, dass unsere Prüfungskriterien selbst kritisch geprüft werden. Wenn ein Algorithmus das bayerische Abitur schafft, sollte man darüber nachdenken, ob unsere Prüfungsformate noch das Richtige abfragen. Wir müssen Lernen und Leisten voneinander trennen. Wie gut lernen Schüler und Schülerinnen, wenn sie wissen, dass es am Ende nur auf die Note ankommt?
Aber bereiten diese Leistungsnachweise nicht auch darauf vor, dass im späteren Leben permanent Leistung abgefragt wird und erbracht werden muss?
Ich glaube nicht, dass jemand, der nicht nur durch Notendruck, sondern durch intrinsische Motivation lernt, später weniger leistungsbereit ist. Hinzu kommt, dass die Millennials und alle nachfolgenden Generationen sich immer stärker den klassischen Leistungsanforderungen verweigern. Die Frustration mit unserem Schulsystem ist immens gewachsen. Wir werden neue Modelle finden müssen. Die knallharte Auslese durch Noten ist nicht mehr zeitgemäß.
Wie kann denn Leistung gemessen und verglichen werden, wenn nicht mit Noten?
Da gibt es schon viele Projekte. Etwa, indem man die Kinder selbst Schwerpunkte setzen lässt und eher schaut, welche Fortschritte sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten gemacht haben. Voraussetzung ist, dass wir uns zuvor die Frage stellen: Was soll gelernt werden und wie können Kompetenzen gut abgebildet werden?
Um Leistung geht es auch bei den Bundesjugendspielen. Diese sollen reformiert werden und künftig mehr Wettbewerb als Wettkampf sein. So soll es keine bundesweit verpflichtende Norm für die Punktevergabe mehr geben. Der Bundesverband der Sportlehrer kritisiert dies mit dem Hinweis, dass auch Kinder sich bereits gern miteinander messen.
Natürlich wollen sich Kinder messen. Aber die Frage ist, in welcher Form. Ich habe die Bundesjugendspiele so erlebt, dass einem kurz die Sportübung gezeigt wurde, dann hatte man eine Schulstunde Zeit, sie zu lernen und dann wurde sie benotet. Natürlich haben die sportlichen Kinder da viel besser abgeschnitten. Für mich war es hingegen eine permanente Frustration, weil es meist nicht einmal für eine Siegerurkunde reichte. Das hat mir damals auch die Freude am Sport vermiest.
Wie haben Sie sie wiedergefunden?
Durch meinen Mann. Ich habe ihn im Studium kennengelernt, er war sehr sportlich, joggte viel. Und sagte zu mir: Probier es doch einfach mal aus, es wird dir guttun. Das habe ich gemacht. Ohne Zwang und ohne Druck. Und betreibe bis heute viel und gerne Sport. Weil man damit wunderbar den Kopf freibekommt. Dieses Gefühl hätte ich mir eigentlich auch von der Schule gewünscht.
Trotz Ihrer eher schlechten Schulerfahrungen sind Sie Schulleiterin geworden. Wie kommt es?
Moment. Abgesehen vom Sportunterricht war meine Schullaufbahn überhaupt nicht traumatisch. Meine Mutter hat mir erst viel später erzählt, dass ihr die Lehrerin vom Gymnasium abgeraten hat. Ich habe lediglich gespürt, dass ich als Kind einer alleinerziehenden Mutter die Ausnahme war, nicht die Regel. Ich habe mich später bewusst entschieden, mich auf den zweiten Bildungsweg zu spezialisieren, weil ich dazu beitragen wollte, dass Menschen, die keine idealen Startbedingungen haben, trotzdem ihren Weg gehen können.
Was würden Sie jungen Menschen raten, die in der Schule gescheitert sind?
Ich würde ihnen raten innezuhalten. Sich eine für sie sinnvolle Aufgabe zu suchen, eine Ausbildung oder ein Freiwilliges Soziales Jahr. Dann können sie in Ruhe darüber nachdenken, ob sie in einer späteren Lebensphase noch einmal einen Anlauf machen. Niemand muss mit 15, 16 oder 17 Jahren schon über den Rest seines Bildungsweges entscheiden. Auch Eltern sollten versuchen, die Ruhe zu bewahren. Wenn das Kind durchs Abitur rasselt, ist die Zukunft nicht verwirkt. Wir müssen da den Druck rausnehmen.
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- Interview mit Dr. Wanda Klee