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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutsche Politiker im Urlaub Die Angst vor dem "Abschuss"
Auch Spitzenpolitiker fahren in den Urlaub. Früher nutzten sie diesen gern, um sich in Szene zu setzen. Inzwischen ist das für einige gefährlich geworden.
Er ist das Urbild aller Politikerferienorte: der Wolfgangsee in Österreich. Über 30 Jahre lang verbrachte Helmut Kohl seinen Sommerurlaub hier mit seiner Frau Hannelore und den beiden Söhnen. Damit hörte er auch nicht auf, als er 1982 Kanzler wurde. Und so kam es, dass der idyllische See und die anliegende Ortschaft St. Gilgen jedes Jahr einen Monat lang ins Zentrum des Interesses der deutschen Öffentlichkeit rückten.
Denn Kohl nutzte den Wolfgangsee natürlich nicht nur zur Erholung, sondern auch zur Inszenierung seines Images als bodenständiger, fürsorglicher Politiker, Ehemann und Vater. Die einbestellten Fotografen setzten ein bürgerliches Familienidyll in Szene. Kohl mit Söhnen beim Brettspiel oder mit dem Schlauchboot auf dem See, beim Wandern mit Frau und Hund, beim Füttern eines Hirsches. Dass vieles davon Fassade war, machte der älteste Sohn, Walter Kohl, als Erwachsener publik. In mehreren Büchern beschrieb er die Kälte und Abwesenheit des Vaters, der für seine Politik alles und für seine Familie wenig gegeben habe.
Inzwischen sind Nachrichten über urlaubende Politiker für diese zur zweischneidigen Angelegenheit geworden: Einerseits stillen sie das Bedürfnis der Öffentlichkeit, die Regierenden auch "privat" zu erleben. Andererseits berauben sie diese des letzten Restes an Privatsphäre. Denn in Zeiten der sozialen Netzwerke, in denen jeder einen Politiker fotografisch "abschießen" und das Bild dann öffentlich verbreiten kann, lassen sich die Einblicke nicht mehr wie zu Kohls Zeiten mit bestellten Fotografen steuern.
Entsprechend zurückhaltend sind Politiker und Politikerinnen mittlerweile, wenn es um die Auskunft zu ihren Urlaubsplänen und Reisezielen geht. Das ist auch in diesem Sommer so.
Am einfachsten ist es für die, die zu Hause urlauben. Da kann man nicht viel falsch machen. Einer von ihnen ist Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). "In diesem Jahr freue ich mich darauf, mit meinen Kindern und meiner Frau viel Zeit im Garten zu verbringen", sagte er t-online auf Anfrage: "Gerade jetzt im Sommer genießen wir die Familienzeit gern zu Hause." Heil ist vor ein paar Jahren mit seiner Familie ins Brandenburger Umland gezogen, er hat zwei Kinder im schulpflichtigen Alter.
Frankreich ist beliebt
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) setzt auf Bewährtes: Sie hat wie bereits im vergangenen Jahr für die Sommerferien ein Ferienhaus in Südfrankreich gemietet.
Nach Frankreich zieht es auch Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), genauer gesagt: in die Provence, die mit ihrer Lavendelblüte von Juni bis August ein Touristenmagnet ist. Auch Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) ist in der kommenden Woche in Frankreich unterwegs, allerdings mit dem Rad.
Agnes Strack-Zimmermann reist nach Griechenland an die Ost-Ägäis. Dort will sie noch einmal durchatmen, bevor sie als Spitzenkandidatin der FDP für das europäische Parlament nach Brüssel wechselt. Gewählt wird im Juni 2024. Ob die begeisterte Motorradfahrerin in den Ferien Zeit für eine Spritztour hat, ist noch nicht klar.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) wird seinen Urlaub in Schottland verbringen. Auch, weil dort in diesem Sommer der 300. Geburtstag des schottische Philosophen und Wirtschaftswissenschaftlers Adam Smith gefeiert wird.
"Die Kanzlerin ist NIE im Urlaub"
Aus dem Umfeld von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist nur zu erfahren, dass er in den Ferien im "befreundeten europäischen Ausland" weilen wird. Was Raum für Spekulationen lässt: Fällt wegen dieser Bezeichnung Polen aus der Liste der möglichen Reiseziele heraus, weil dessen Regierung gerade gegen die EU stänkert und die Beziehung zu Deutschland schon seit Langem, nun ja, schwierig ist? Oder Ungarn, dessen Regierungschef Viktor Orbán ebenfalls Stimmung gegen die Union macht, weil diese wegen seiner ständigen Rechtsstaatsverletzungen einen Teil ihrer Finanzhilfen ausgesetzt hat?
Immerhin wird im Kanzleramt offen zugegeben, dass auch ein Kanzler mal eine Auszeit braucht. Wer dem früheren Merkel-Sprecher Steffen Seibert die harmlose Frage nach dem Ferienort der Kanzlerin stellte, dem wurde in tadelndem Ton beschieden: "Die Kanzlerin ist NIE im Urlaub." Zahlreiche Fotos zeugen freilich davon, dass Merkel der italienischen Insel Ischia sehr zugetan war. Natürlich nicht, um Urlaub zu machen, sondern um am Golf von Neapel die deutsche Innenpolitik mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Die Schweigsamkeit des Kanzleramts hinsichtlich der genauen Wahl des Urlaubsorts ist nachvollziehbar. Als er im vergangenen Sommer im Allgäu wanderte, wurde Olaf Scholz von einem "Bild"-Reporter aufgespürt. Ähnliche Begegnungen möchte man in diesem Jahr tunlichst vermeiden.
Noch zugeknöpfter geben sich viele Grünen-Spitzenpolitikerinnen und -Spitzenpolitiker. Von ihnen gibt es nicht einmal eine vage Auskunft, wo sie urlauben. Die Sorge, bei einem klimaunfreundlichen Langstreckenflug erwischt und dafür öffentlich angeprangert zu werden, dürfte dabei aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Einige geben offen zu, dass Sicherheitsgründe ausschlaggebend für ihre Zurückhaltung seien.
So ist die einst harmlose Information über urlaubende Politiker zu einer Art Menetekel für den Zustand der Gesellschaft geworden: Mancher Bürger macht in seinem Frust über eine aus seiner Sicht verfehlte Politik nicht einmal mehr vor dem letzten Rest an Privatsphäre der Politiker Halt.
- Eigene Recherchen