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US-Wahl 2020: Joe Bidens Zittersieg muss ein Weckruf für Deutschland sein


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Bidens Zittersieg
Wir müssen uns endlich von allen Illusionen verabschieden

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 07.11.2020Lesedauer: 5 Min.
Der Sieger: Joe Biden wird der nächste US-PräsidentVergrößern des Bildes
Der Sieger: Joe Biden wird der nächste US-Präsident (Quelle: imago-images-bilder)

Der nächste US-Präsident heißt Joe Biden. Doch richtig überzeugend ist sein Wahlsieg nicht. Deshalb müssen sich Deutschland und Europa dringender denn je selbst um ihr Schicksal kümmern.

Was hatten Experten nicht alles prognostiziert: einen Erdrutschsieg der Demokraten, einen Triumph von Joe Biden über Donald Trump, eine deutliche Zurückweisung des Populismus durch die amerikanischen Wähler – und damit die Rückkehr der Vernunft in Washington.

So kann man sich täuschen. Zwar hat sich Biden nun die Mehrheit im Kollegium der Wahlleute gesichert und wird am 20. Januar 2021 zum 46. Präsidenten der USA vereidigt. Und natürlich gilt wie stets bei einer demokratischen Wahl: Mehrheit ist Mehrheit.

Aber Bidens Sieg ist eben alles andere als überzeugend. Denn es ging dieses Mal weniger um Inhalte – auch wenn die Folgen von Corona für die USA genauso weitreichend sind wie für Europa. Doch Trump machte sich weder die Mühe, die Pandemie in den Griff zu bekommen, noch wollte oder konnte er skizzieren, was er mit weiteren vier Jahren im Weißen Haus eigentlich anzustellen gedenkt.

Soll ein verzogenes Kind Präsident bleiben?

Im Mittelpunkt des Wahlkampfes stand deshalb eine andere Frage: Soll die größte Volkswirtschaft der Erde, deren Präsident sich traditionell als Anführer der freien Welt versteht, von einem Erwachsenen regiert werden, der sich wie ein verzogenes Kind verhält – oder von einem, der altersadäquat agiert und über moralische Standards verfügt?

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Anders gefragt: Soll der mächtigste Mensch der Welt dem Amt gewachsen sein und es ernst nehmen oder damit überfordert sein und es ruinieren?

Die Antwort auf diese Frage hat viele Wähler mobilisiert, sehr viele sogar. Die noch laufende Auszählung deutet darauf hin, dass die Wahlbeteiligung in den USA so hoch liegen könnte wie seit Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr.

Nur wurden eben nicht nur jene mobilisiert, die durch Trumps Abwahl dauerhaften Schaden vom politischen System abwenden wollten, sondern auch diejenigen, die sich vier weitere Jahre Reality-TV im Oval Office mit allen Konsequenzen wünschten.

Wer 2016 Trump wählte, konnte anschließend noch behaupten, sie oder er habe nicht kommen sehen, dass es so schlimm werde. Wer es 2020 erneut oder zum ersten Mal tat, kann sich nicht mehr herausreden. Viele scheint das nicht wirklich gestört zu haben: Wenn alle Wahlzettel ausgezählt sind, wird Trump weit über 70 Millionen Stimmen auf sich vereint haben. Vor vier Jahren waren es nur rund 63 Millionen.

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Alles egal, Hauptsache, Biden hat es irgendwie geschafft – so ließe sich natürlich argumentieren. Immerhin ist das Amt des Präsidenten der größte Preis, der bei den Wahlen vergeben wurde. Aber wie es derzeit aussieht, werden die Demokraten im Kongress keine Mehrheit bekommen.

Im Repräsentantenhaus haben sie sogar Sitze verloren, im Senat werden sie wohl in der Minderheit bleiben. Gleichzeitig sicherten sich die Republikaner auf Ebene der Bundesstaaten vielfach erneut Mehrheiten. Sie können dort also das fortsetzen, was sie vor langer Zeit begonnen haben – etwa Wahlkreise so zuschneiden, dass ihr Sieg auf lange Zeit gesichert ist.

Die Republikaner haben sich radikalisiert

Dabei haben die Republikaner eh schon strukturelle Vorteile gegenüber den Demokraten. Seit den Neunzigerjahren sicherte sich die Partei bei Präsidentschaftswahlen nur 2004 die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Trotzdem stellte sie dank des Systems der Wahlleute zwischen 1992 und heute immerhin zwölf Jahre das Staatsoberhaupt.

Noch größer ist die Verzerrung im Senat. Weil jeder Bundesstaat dorthin zwei Senatoren entsendet, verfügt das republikanisch dominierte Wyoming mit rund einer halben Million Einwohner über genauso viel Macht wie das den Demokraten zuneigende Kalifornien mit fast 40 Millionen Einwohnern.

Das alles wäre weniger ein Problem, wenn sich die Republikaner nicht seit Längerem radikalisieren würden und sich in den vergangenen Jahren nicht fast vollständig dem autokratisch agierenden Trump unterworfen hätten. Ob die Partei es trotz ihrer langen Tradition schafft, wieder zurück in Richtung politische Mitte zu finden, ist offen.

Dass sich die politische Selbstblockade in Washington vertieft und damit auch die gesellschaftliche Spaltung in den USA vertieft, ist ein durchaus realistisches Szenario. Deshalb wird das Land noch eine ganze Weile vor allem mit sich selbst beschäftigt sein.

Was dort passiert oder eben auch nicht, hat allerdings für die gesamte Welt Folgen. Gerade auch für Deutschland und Europa.

Eigentlich wissen alle, was zu tun ist

Wir hätten bereits nach der Wahl 2016 aufwachen – und auch aufstehen – müssen. Aber wir sind liegen geblieben und haben gehofft, Trump sei doch nur ein schlechter Traum, und schon bald werde alles wieder so schön, wie es nie war. Wenn wir uns dieser Illusion nun ein zweites Mal hingeben, verlieren wir erneut Zeit. Leisten können wir uns das nicht.

Denn der Westen hat sich durch die Trump-Jahre dramatisch verändert: Die Nato ist brüchiger geworden, der globale Freihandel nicht mehr selbstverständlich, die demokratischen Institutionen angreifbar.

Der Schaden ist angerichtet. Joe Biden wird die Lage zwar kaum weiter eskalieren lassen, sondern eher für ein besseres transatlantisches Klima sorgen. Aber er kann auch nicht so tun, als habe es Trump nie gegeben. Dafür war der Rückhalt für den Noch-Präsidenten trotz seiner atemberaubenden Amtszeit bei der Wahl zu groß. Und wer will schon vorhersagen, wen die Amerikaner 2024 wählen?

Was in Deutschland und Europa zu tun ist, weiß jede und jeder, der in Berlin, Brüssel und anderen Hauptstädten eine verantwortliche Position innehat: Die EU muss dringend mehr für sich sorgen, weil sie nicht mehr auf die Hilfe des großen Bruders bauen kann.

Europa verfügt über viele Stärken

Wir müssen selbst aktiv werden, wenn wir in einer konfliktträchtigeren Welt weiter sicher leben wollen.

Wir müssen selbst aktiv werden, wenn wir unseren Wohlstand, der auch auf dem freien Warenverkehr in aller Welt aufbaut, erhalten wollen.

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Und wir müssen selbst aktiv werden, wenn wir das demokratische System als das verteidigen wollen, was es ist: "die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von allen anderen" (Winston Churchill).

Das erfordert Mut, Entschlossenheit, Geld und vieles andere mehr. Deshalb klingt dieser Weg in Richtung einer größeren Unabhängigkeit von den USA nicht unbedingt verlockend. Aber wir können ihn optimistisch angehen.

Schließlich verfügen wir über zahlreiche Stärken – von vergleichsweise wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften, die einen sozialen Ausgleich organisiert bekommen, über grundsätzlich funktionierende Verwaltungen, die nicht tagelang für die Auszählung einer Wahl benötigen, bis hin zu Gesundheitssystemen, die fast jeden ordentlich versorgen. Und wir haben in der Regel politische Systeme, die eher auf Ausgleich denn Polarisierung ausgerichtet sind.

Dank dieses European way of life ist die ökonomische, gesellschaftliche und politische Spaltung bei uns noch nicht so weit fortgeschritten wie in den USA. Natürlich muss das nicht so bleiben.

Aber wenn wir uns bewusst machen, was wir zu verlieren haben, werden wir uns in Europa vielleicht stärker dafür einsetzen, diese Errungenschaften zu verteidigen – und dafür unser Schicksal endlich in unsere Hand nehmen.

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