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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gespräche über Abzug der US-Truppen "Man will vermeiden, in alte Zeiten zurückzufallen"
Der Irak will, dass die dort stationierten US-Truppen bald das Land verlassen. Die USA aber haben Sicherheitsbedenken. Worum geht es bei den Gesprächen?
Jetzt soll es schnell gehen. Der Irak und die USA haben Verhandlungen über die Zukunft der von Washington angeführten Militärkoalition aufgenommen. Während Bagdad möchte, dass die USA so bald wie möglich ihre Truppen abziehen, sehen sich die USA offenbar noch nicht dazu veranlasst.
Zunächst werde ein Komitee aus Militärs die operativen Bedürfnisse und die Effektivität der irakischen Sicherheitskräfte bewerten, teilte das irakische Außenministerium am Donnerstag mit. Auf dieser Grundlage werde dann entschieden, wie schnell die Truppen abgezogen werden und die Koalition abgewickelt werde.
Der Vorgang dürfte Vertretern beider Staaten zufolge mehrere Monate, wenn nicht länger dauern. Ein Abzug der US-Truppen stehe nicht unmittelbar bevor. Ohnehin hat Washington Zweifel, ob der Zeitpunkt für einen Abzug bereits gekommen ist. Die Nachrichtenagentur Reuters hatte am Mittwoch über entsprechende Pläne berichtet.
Die Gespräche beginnen inmitten steigender Spannungen im Nahen Osten, die durch den Krieg Israels gegen die Hamas befeuert werden. Warum macht Bagdad gerade jetzt diesen Vorstoß, um die US-Truppen loszuwerden? Und welche Auswirkungen könnte ein Abzug der USA aus dem Irak für die Sicherheit in der Region haben?
Rund 2.500 US-Soldaten im Irak stationiert
Die USA waren 2003 in den Irak einmarschiert und hatten den Machthaber Saddam Hussein gestürzt. Dafür hatten die USA nie ein Mandat des UN-Sicherheitsrates bekommen. Die Invasion in den Irak gilt daher nach herrschender Meinung als Bruch des Völkerrechts. Es folgten jahrelange Konflikte zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen im Land.
Ein erster Abzug 2011 wurde zurückgenommen, nachdem die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) erstarkte. Die USA befürchten nun, dass ein zu schneller Abzug der verbliebenen 2.500 Soldaten zu einer Rückkehr des IS führen oder den Iran auf den Plan rufen könnte.
Denn zuletzt waren die US-Kräfte im Irak beinahe täglich zum Ziel von schiitischen Milizen geworden, die vom Iran unterstützt werden. Diese sehen in den US-Truppen eine Besatzungsmacht, da ihr Mandat aktuell keine völkerrechtliche Grundlage hat. Mitte Januar hatten sogar die iranischen Revolutionsgarden selbst Ziele im Nordirak angegriffen, die zumindest nahe dem US-Konsulat in Erbil lagen. Mehr dazu lesen Sie hier.
In der Nacht zu Mittwoch hatten die USA mit einem Gegenschlag auf einen Angriff pro-iranischer Milizen reagiert. Es seien drei Einrichtungen aus der Luft angegriffen worden, die von der Miliz Kataib Hisbollah und anderen mit dem Iran verbundenen Gruppen im Irak genutzt würden, teilte das zuständige Regionalkommando des US-Militärs auf der Plattform X (vormals Twitter) mit.
"Der Militärschlag war wohl nicht mit Bagdad abgestimmt"
Der Nahostexperte Daniel Gerlach, der erst kürzlich selbst das Land besucht hat, berichtet im Gespräch mit t-online, dass dieser Gegenschlag im Irak für Missstimmung gesorgt habe. "Denn der Militärschlag war wohl nicht mit der Regierung in Bagdad abgestimmt", so Gerlach. Das eigenmächtige Vorgehen der USA stellt die irakische Regierung vor ein Dilemma: Einerseits versuche sie derzeit, die schiitischen Milizen unter ihre Kontrolle zu bringen oder aufzulösen, sagt der Experte. "Dass die USA auf eigene Faust Luftangriffe durchführen, untergräbt diese Bemühungen und das Gewaltmonopol sowie die Souveränität des irakischen Staates."
Zur Person
Daniel Gerlach ist Autor, Nahost-Experte und Direktor der Denkfabrik Candid Foundation. Zudem gibt er das Fachblatt "Zenith – Zeitschrift für den Orient" heraus und ist dessen Chefredakteur. Gerlach studierte in Hamburg und Paris Orientalistik und Geschichte. Er gilt als einer der führenden Experten in Deutschland für den Nahen Osten und die muslimische Welt.
Grundsätzlich sei die irakische Regierung nicht anti-amerikanisch eingestellt, sondern suche sogar gute Beziehungen zu Washington, sagt Gerlach. Allerdings habe das Parlament bereits 2020 eine Resolution verabschiedet, die denn Abzug der US-Truppen fordert. "Das kann die aktuelle irakische Regierung nicht einfach ignorieren", sagt der Nahost-Experte. Im Januar 2020 hatte die US-Regierung unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump die Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani und eines Anführers der paramilitärischen, mehrheitlich schiitischen Volksmobilisierungskräfte per Luftschlag veranlasst. Infolgedessen wuchsen die Spannungen in der Region.
Anfang Januar war erneut ein Milizen-Führer in Bagdad durch einen US-Drohnenangriff getötet worden. Der irakische Ministerpräsident Mohammed Schia al-Sudani hatte daraufhin erklärt, der US-Einsatz müsse beendet werden. Grundsätzlich sieht die Regierung in Bagdad den IS als besiegt und die Arbeit der Koalition als beendet an.
"Wenn Trump erneut gewählt werden sollte, kann im Irak alles passieren"
So sieht es auch Daniel Gerlach. "Die Sicherheitslage im Irak sieht im Großen und Ganzen deutlich besser aus als noch vor wenigen Jahren." Der irakischen Regierung gelinge es immer mehr, ihre Kontrolle über die schiitischen Milizen auszubauen und sie aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. "Der IS ist noch da, aber stark dezimiert", fügt der Nahost-Experte hinzu. "Es besteht zwar jederzeit das Risiko, dass diese Gruppe wieder erstarken könnte. Absehbar ist das derzeit jedoch nicht."
Deshalb können eher keine Parallelen zum übereilten Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan im Sommer 2022 gezogen werden. Afghanistan galt damals nicht als gefestigter, demokratischer Staat. Die dortigen militant-islamistischen Taliban waren zwar in entlegenere Regionen zurückgedrängt, jedoch nie völlig ihrer Machtbasis entzogen worden.
Ein für den Irak viel größeres Risiko könnte ab dem kommenden Jahr im Weißen Haus sitzen: der Republikaner Donald Trump. "Wenn Trump im November erneut zum US-Präsidenten gewählt werden sollte, kann im Irak alles passieren", warnt Gerlach. Trump habe bereits in seiner ersten Amtszeit gezeigt, dass er nicht dazu bereit ist, Risiken von Militäreinsätzen in der Region abzuwägen. Das zeigt auch die Tötung des iranischen Generals Soleimani. Diese hätte leicht zu einer militärischen Eskalation mit dem Iran führen können. "Eine Trump-Regierung ist ein Risiko für den Irak", resümiert Gerlach.
"Auch deshalb macht Bagdad nun Druck, das Thema der US-Truppen anzugehen", erklärt Gerlach. "Man will vermeiden, in alte Zeiten zurückzufallen, als verfeindete Mächte ihre Konflikte im Irak austrugen."
Mehr europäische Truppen im Irak?
Allerdings schätzt der Nahost-Experte es als unwahrscheinlich ein, dass die US-Truppen tatsächlich komplett aus dem Land abziehen. Denn besonders die Kurden im Nordirak sehen die USA noch immer als wichtigen Schutz an. Sie werden nicht nur vom Iran attackiert. Erst Mitte Januar flog die Türkei Luftangriffe auf die Kurdengebiete – und das nicht zum ersten Mal.
Denkbar sei hingegen ein Teilabzug oder eine signifikante Stärkung der irakischen Regierungstruppen mit besserer Ausrüstung, so Gerlach. "In jedem Fall braucht es eine klarere rechtliche Grundlage." Möglicherweise könne dann auch eine Beratungsmission der US-Amerikaner mit kleiner Truppenpräsenz übrig bleiben. Gerlach aber würde einen anderen Ansatz bevorzugen: "Ich halte es für sinnvoller, die europäischen Truppen, die schon jetzt Teil der Anti-IS-Koalition im Irak sind, zu stärken", sagt der Nahost-Experte. "Sie polarisieren weniger als die Amerikaner."
- Telefoninterview mit Daniel Gerlach
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters