Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Israels Dilemma Geiselbefreiung in Gaza? Das gab es noch nie
Seit dem terroristischen Überfall auf Israel befinden sich rund 200 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Die israelische Führung steht vor einem Dilemma.
Israel steckt dieser Tage in einem Dilemma: Terroristen der Hamas haben am vorvergangenen Samstag rund 1.300 Menschen getötet, die große Mehrheit von ihnen waren Zivilisten. Zusätzlich haben die Islamisten bei ihrem Überfall auf Israel rund 200 Geiseln genommen und sie mutmaßlich in den Gazastreifen verschleppt.
Angesichts des brutalen Terrorangriffs der Hamas will Israel zurückschlagen, sein Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen. Seit Tagen wird deshalb eine großangelegte Offensive der israelischen Streitkräfte gegen die Terrororganisation im Gazastreifen erwartet. Doch noch zögert die Regierung in Jerusalem. Wartet Israel mit der Militäroperation, um die Geiseln in der Gewalt der Hamas nicht unnötig zu gefährden?
"Es ist eine der kompliziertesten, dynamischsten und umfangreichsten Geiselbefreiungssituationen, die ich je erlebt habe", sagte der ehemalige US-Soldat und Spezialist für Operationen zur Befreiung von Geiseln, Bryan Stern, dem Portal "The War Zone". Er schätzt die Überlebenschancen der Geiseln äußerst pessimistisch ein: "Ich denke, am Ende werden wir Blut auf den Straßen sehen."
Doch welche Szenarien gibt es überhaupt zur Rettung der Gefangenen der Hamas? t-online gibt einen Überblick:
1. Verhandlungen für einen Gefangenenaustausch
Israel könnte in Verhandlungen mit der Hamas treten, um die Geiseln im Austausch gegen in Israel inhaftierte Palästinenser zu befreien. Dass diese Option überhaupt in Betracht gezogen wird, ist keine Selbstverständlichkeit. Erst seit den 1980er-Jahren verhandelt der Staat Israel mit militanten Gruppen, um die Freilassung von Geiseln zu erwirken. Zuvor hatte man stets auf den Einsatz von Gewalt gesetzt.
Vielen dürfte der Fall des israelischen Soldaten Gilad Schalit in Erinnerung sein. Er war 2006 mit seiner Panzerbesatzung nahe dem Gazastreifen in einen Hinterhalt der Hamas geraten und gefangen genommen worden. Ganze fünf Jahre lang befand er sich in der Gewalt der Islamisten. Erst 2011 konnte Schalit befreit werden: Israel musste im Gegenzug mehr als 1.000 Palästinenser aus seinen Gefängnissen freilassen. Damals wie heute war Benjamin Netanjahu Ministerpräsident.
Nun sei die Situation jedoch eine ganz andere, sagte Gershon Baskin, der damals maßgeblich die Freilassung Schalits mitverhandelte, dem "Spiegel". Aufgrund der Masse an Geiseln wisse man nicht, wo sie sich aufhielten. Man gehe davon aus, dass sie in Tunneln sowie Kellern von Gebäuden festgehalten würden. Zudem habe nicht nur die Hamas Menschen entführt, sondern auch die Miliz Islamischer Dschihad, die ebenfalls an dem Terrorangriff auf Israel beteiligt war. Und noch mehr: "Wir wissen auch nicht, wie viele bei ihrer Verschleppung nach Gaza getötet wurden oder in Gefangenschaft gestorben sind."
Verhandlungen laufen wohl bereits
Dennoch zeigte sich Baskin optimistisch: "Ich denke, es gibt im Moment ein Zeitfenster für einen Austausch, zumindest für Frauen, Kinder, Alte und Kranke. Und ich denke, dass daran gearbeitet wird." Seines Wissens nach gebe es sogar bereits ein Angebot: Israel biete der Hamas die Freilassung 43 weiblicher Gefangener und 190 Minderjähriger. Mehr werde es jedoch nicht geben.
Dazu müssten aber Bedingungen erfüllt werden: Die Hamas hat in der vergangenen Woche ein Ende der Luftangriffe auf Gaza gefordert, um in Verhandlungen einzutreten. Zudem solle Israel alle 5.200 palästinensischen Gefangenen freilassen, die nach Angaben der Hamas in israelischen Gefängnissen sitzen. Nicht zuletzt drohten die Terroristen damit, jedes Mal eine Geisel zu töten, wenn Israel ohne Vorwarnung Luftschläge gegen Zivilisten durchführe.
Es stellt sich jedoch auch die Frage, ob die Hamas überhaupt an Verhandlungen interessiert ist. Die Geiseln könnten den Terroristen bei einem Bodenangriff als "menschliche Schutzschilde" dienen. Aktuell haben sie mit den Gefangenen einen Hebel, um auf die israelische Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einzuwirken. Und die Islamisten können ein Narrativ schaffen: Sollte sich die Situation für die Hamas nicht gut entwickeln, "ist ihre Fähigkeit, weiterhin Geiseln zu halten, ein Signal für ihre Stärke und Israels Ohnmacht, sie nach Hause zu holen", schreibt Sicherheitsexpertin Rachel Briggs vom britischen Thinktank Chatham House.
Sobald die Offensive beginnt, sind Verhandlungen nicht mehr möglich.
Gershon Baskin
Sollte es tatsächlich zu einem Gefangenenaustausch kommen, "gäbe es wahrscheinlich einen Waffenstillstand von 24 bis 48 Stunden", erklärte Baskin dem "Spiegel". Dann könnte auch ein humanitärer Korridor eingerichtet werden.
Doch das Zeitfenster, von dem der Nahost-Leiter der Menschenrechtsorganisation "International Communities Organisation" sprach, könnte von kurzer Dauer sein. Denn "sobald die Offensive beginnt, sind Verhandlungen nicht mehr möglich: Ich denke nicht, dass die Hamas sich darauf einlassen würde." Manche Geiseln würden dennoch gerettet werden, andere hingegen sterben. Nur eines sei sicher, meint Baskin: "Die Bewacher der Geiseln werden nicht überleben."
2. Spezialoperationen zur Geiselbefreiung
Die israelischen Streitkräfte gehören zu den am besten trainierten der Welt. Spezialeinheiten sind für die Befreiung von Geiseln ausgebildet. Eine davon ist Schajetet 13, mehr über die Elitesoldaten lesen Sie hier. Zudem sind die Geheimdienste des Landes bestens vernetzt, rühmen sich für die Infiltrierung militanter Palästinensergruppen. Doch mit dem unerwarteten Angriff der Hamas-Terroristen am 7. Oktober hat dieses Selbstbewusstsein einen schweren Schlag bekommen, weil auch Israel von der Terrorattacke komplett überrascht wurde.
Zudem würden die israelischen Spezialkräfte Neuland betreten: "Es hat niemals eine Geiselbefreiung in Gaza gegeben", sagte Tomer Israeli, ein Ex-Mitglied des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, dem Portal "The War Zone". In dem Gebiet an Geheimdienstinformationen zu gelangen, sei besonders schwer, da es sich im Prinzip um ein Kriegsgebiet handele. Doch Informationen seien ein Schlüsselfaktor für die erfolgreiche Befreiung von Geiseln. Doch wie würde eine solche Operation aussehen?
Zunächst müsse sichergestellt werden, "dass das Gebiet sicher ist", so Tomer. Man müsse also "eine gewisse Kontrolle über das Ziel haben". Dabei könne es sich um ein Haus, eine Wohnung, einen Keller oder jedweden vorstellbaren Ort handeln, wo die Geiseln festgehalten werden. Das Gelände müsse "eingefroren" werden, erklärt der Spezialist. Im Anschluss müsse eine Situation geschaffen werden, in der der Feind zu beschäftigt sei, um Einsatzkräfte daran zu hindern, in das Gelände einzudringen.
Wir wissen, wie man mit dieser Situation umgeht, besonders in Israel.
Ex-Geheimdienstler Tomer Israeli
Eine laufende Bodenoffensive könnte dabei helfen, eine solche Situation zu schaffen. Dennoch: Eine Operation zur Befreiung von Geiseln sei "beinahe chirurgisch", erklärte Israeli. Die Einsatzkräfte könnten bestimmte Waffen, etwa Granaten, nicht einsetzen, um die Geiseln nicht zu gefährden.
"Wir wissen, wie man mit dieser Situation umgeht, besonders in Israel", fügte er hinzu. "Das größte Problem ist, zu wissen, wo die Geiseln sind und die Informationen zu bekommen, um eine Mission zu planen, die eine gute Chance auf Erfolg hat", so der ehemalige Geheimdienstler.
Dabei sollen laut der Nachrichtenagentur Reuters nun auch Cyber-Experten helfen. Sie suchen im Internet nach Hinweisen auf den Aufenthaltsort von Geiseln der Hamas. Erst am Montag veröffentlichte die Terrororganisation erstmals ein Video, in dem eine mutmaßliche 21-jährige Geisel zu Wort kommt. Mehr dazu lesen Sie hier. Nun aber sei die Hamas dabei, solche Videos zu löschen, da sie wisse, dass sie überwacht werde.
3. Israel verliert die Geduld
Ob Verhandlungen angesichts der von der Hamas verübten Gräueltaten realistisch sind, ist noch unklar. Die Rhetorik der israelischen Führung nach den brutalen Angriffen lässt nichts Gutes erahnen: Finanzminister Bezalel Smotrich soll laut der Nachrichtenagentur AP am Tag des Hamas-Überfalls gefordert haben, dass das Militär "die Hamas brutal treffen und die Angelegenheit der Gefangenen nicht wesentlich berücksichtigen" solle. Angesichts der großen Zahl an Geiseln in der Gewalt der Terroristen erscheint es vielen Experten zudem als unwahrscheinlich, dass alle durch Verhandlungen freikommen oder durch Spezialoperationen befreit werden.
"Manche Israelis, mit denen ich gearbeitet und gesprochen habe, betrachten diese Geiseln bereits als Märtyrer und Helden und wollen Schreine errichten", sagte US-Experte Stern "The War Zone". Diese Perspektive erscheint auf den ersten Blick sehr düster, doch sie könnte einen Vorteil haben: Die Geiselnehmer würden ein Druckmittel verlieren. "Eine Geisel ist nur dann gut, wenn sie für jemand anderen wertvoll ist. Wenn die Geisel nicht mehr wertvoll ist, spielt sie keine Rolle mehr".
Im Judentum gibt es ein Gebot, welches verlangt, Geiseln aus den eigenen Reihen zu befreien.
Israelische Bildungsexpertin Anita Haviv
Damit würde Israel jedoch auch das Leben der Geiseln, die nicht nur eigene Staatsbürger sind, sondern aus Dutzenden Nationen kommen, aufs Spiel setzen. Stern hält eine "gütliche Einigung" mit den Hamas-Terroristen für möglich, er sei sich jedoch nicht sicher, ob die Israelis zu solchen Gesprächen bereit seien.
Diese Option gilt jedoch als die unwahrscheinlichste. Der internationale Druck, die Geiseln zu befreien, ist zu hoch. Mehrere Länder haben sich bereits als Vermittler angeboten, darunter Katar, Ägypten, die Türkei und selbst Kremlchef Wladimir Putin. Laut Berichten soll sogar die Bundesregierung vermitteln wollen. Auch bei der Freilassung des Soldaten Gilad Schalit wirkte ein Agent des Bundesnachrichtendienstes mit. Über Verhandlungen mit Terroristen sprach er im Interview mit t-online.
Nicht zuletzt könnte es einen Verstoß gegen die Regeln des Judentums darstellen, die Geiseln der Hamas einfach fallenzulassen. "Im Judentum gibt es ein Gebot, welches verlangt, Geiseln aus den eigenen Reihen zu befreien. Das entspräche also einer Tradition aus der jüdischen Religion", sagte die israelische Bildungsexpertin Anita Haviv dem Sender ntv. Ob religiöse Normen im Umgang mit dem Hamas-Terror für Israel eine Rolle spielen, bleibt abzuwarten.
- thedrive.com: "Hostage Rescue Experts On The Daunting Challenges Israel Faces" (englisch)
- spiegel.de: ""Das Einzige, was sicher ist: Die Bewacher der Geiseln werden nicht überleben"" (kostenpflichtig)
- fr.de: "Israel steckt in Geisel-Dilemma – Hamas verschärft die Lage"
- apnews.com: "Gaza is tiny and watched closely by Israel. But rescuing hostages there would be a daunting task" (englisch)
- chathamhouse.org: "Why has Hamas taken hostages?" (englisch)
- n-tv.de: "Warum Netanjahu in der Klemme steckt"
- afr.com: "Israel faces risky, agonising decisions on hostages" (englisch)
- spiegel.de "Gilad Schalit ist frei"