Russische Bedrohung Im Angesicht Putins offenbart die Nato ihr größtes Problem
Nach einer aufreibenden Woche der Krisendiplomatie bleiben weiter Fragen offen. Stellt der russische Präsident bewusst unerfüllbare Forderungen, um einen Krieg zu rechtfertigen? Oder geht es um etwas ganz anderes?
Rund acht Stunden in Genf, vier Stunden in Brüssel und zum Schluss noch einmal fünf Stunden in Wien – in drei Gesprächsrunden sind russische und westliche Spitzendiplomaten der Sicherheit in Europa keinen Schritt näher gekommen. Schon bei ihren Zielen lagen die Konfliktseiten auseinander. Während die Gesandten von Kremlchef Wladimir Putin über ein Ende der Nato-Osterweiterung und andere Sicherheitsgarantien verhandeln wollten, ging es der Nato und den USA vor allem darum, Russland zu einem Abbruch des Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine zu bewegen.
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Doch auch nach dem Verhandlungsmarathon steht die für Europas Sicherheit elementar wichtige Frage im Raum, ob Putin einen Überfall auf die Ukraine plant. Und es geht darum, wie es jetzt überhaupt weitergeht nach diesen umfangreichsten Gesprächen seit Russlands Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim 2014. Geschafft hat das vom Westen in diesen Sicherheitsfragen lange gemiedene Riesenreich, alle an einen Tisch zu bringen.
Wer macht den nächsten Schritt?
Vorhersehbar auch aus russischer Sicht war aber, dass Putin mit seinen Forderungen an die Nato, auf die Aufnahme der Ukraine und anderer Staaten zu verzichten, abblitzen würde. Russland zeigt sich nun demonstrativ enttäuscht. Doch wartet die Atommacht, die sich vom US-Militär und insgesamt von der Nato bedroht sieht, nun auf Vorschläge des Westens – in "schriftlicher Form" bis nächste Woche, wie der russische Außenminister Sergej Lawrow am Freitag betonte.
Den Westen dagegen hält vor allem weiter der russische Aufmarsch in der Nähe der ukrainischen Grenze in Atem. Mehr als 100.000 Soldaten befinden sich nach US-Angaben mittlerweile dort. Ein Einmarsch in das Nachbarland wäre ein riesiger Fehler und würde beispiellose Wirtschafts- und Finanzsanktionen nach sich ziehen, lautete deshalb eine der Botschaften des Westens. Zugleich wurden Moskau neue Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle angeboten.
Das ist eine Antwort darauf, dass Russland sich nach eigenen Angaben vom Westen in seiner Sicherheit bedroht sieht. Das Land werde von "Brückenköpfen" der USA nur so umzingelt, meinte Lawrow. Moskau kritisiert schon seit Wochen, dass der Westen stets einen Rückzug russischer Truppen fordere – aber gar nicht sage, wohin, weil die Soldaten schon auf russischem Gebiet seien. Dabei ist aus westlicher Sicht klar, dass Putin vor allem deshalb das Militär an der ebenfalls um ihre Sicherheit besorgten Ukraine hat zusammenziehen lassen, um Druck auszuüben und den Westen zu Gesprächen zu zwingen.
Raketen in Venezuela und Kuba
Das ist ihm gelungen. Und eine der am meisten gestellten Fragen bei Lawrows Treffen mit Journalisten in Moskau war nun, wie konkret Russlands Drohungen mit militärischen Gegenmaßnahmen aussehen. Lawrow verwies dazu auf Putin, der unlängst meinte, zunächst würden die Antworten der USA und der Nato abgewartet, dann seien russische Militärs am Zuge – mit Vorschlägen.
Aufhorchen ließ dabei zuletzt Lawrows Stellvertreter Sergej Rjabkow, einer der Verhandlungsführer, der Raketen auf Kuba oder in Venezuela nicht ausschließen wollte. Die Idee dahinter ist, dass Russland im Vorhof der USA ebenfalls aktiver wird – so wie Vereinigten Staaten in Europa präsent sind – nach Meinung Putins in einem Gebiet, in dem Moskau eigene Interessen hat.
Invasionspläne oder reine Machtdemonstration?
Wie das Ganze ausgeht, ist völlig offen. Und das Problem für die Nato ist, dass sie über die Absichten von Putin weiter nur spekulieren kann. Westliche Geheimdienste gingen zuletzt davon aus, dass Putin mit dem Truppenaufmarsch Zugeständnisse der Nato und der USA erpressen will. Für denkbar wird deswegen auch gehalten, dass Putin doch konkrete Pläne für einen Einmarsch in die Ukraine hat, um so eine Aufnahme des Landes in die Nato auszuschließen. Als Vorwand könnte dann die Erzählung dienen, der Westen sei selbst schuld, weil er die Sorgen Russlands nicht ernst genommen habe. Moskau weist solche Gedankenspiele zurück.
Der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, machte am Donnerstag allerdings deutlich, dass die USA die Gefahr einer russischen Invasion in der Ukraine weiterhin für hoch halten. Schließlich bleibt auch noch die Möglichkeit, dass es Putin schlicht und einfach darum gehen könnte, zu demonstrieren, dass Russland wie die USA und China eine Weltmacht ist, die die internationale Agenda bestimmen kann. Vielleicht auch, um von innenpolitischen Problemen abzulenken oder die bereits vom Afghanistan-Debakel geschwächte Nato auf eine neue Probe zu stellen.
Nato uneins über Sanktionen
Und so geschlossen, wie es sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wünschen würde, stehen die Mitglieder nicht zusammen. Uneinigkeit gibt es zum Beispiel darüber, was für Sanktionen im Fall einer russischen Intervention in der Ukraine in Betracht gezogen werden sollten. So gibt es unter anderem in Deutschland Zweifel daran, ob es sinnvoll wäre, auch zu Strafmaßnahmen zu greifen, die erhebliche Auswirkungen auf die Bürger in Russland haben würden. Dazu zählen beispielsweise solche, die den Zahlungsverkehr oder den Export westlicher Unterhaltungselektronik nach Russland einschränken würden.
Befürchtet wird in manchen Ländern zudem, dass etwa ein Betriebsverbot für die Gaspipeline Nord Stream 2 zu einem weiteren Anstieg der Energiepreise in Europa führen könnte – mit der Folge, dass europäische Bürgerinnen und Bürger die Sanktionen nicht unterstützen.
Zumindest Konfliktpotenzial bergen Russlands Forderungen auch in der deutschen Innenpolitik. So fordert Putin ebenso wie Politiker von der SPD und den Grünen einen Abzug der in Deutschland stationierten US-Atomwaffen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die in der kommenden Woche zu Gesprächen nach Moskau reisen will, gab sich zu der Frage zuletzt schmallippig. "Über Fragen von Abrüstung muss und sollte gesprochen werden. Aber jetzt, wo man sich gerade an den Tisch gesetzt hat, kommentiere ich nicht offen irgendwelche einzelnen Überlegungen", sagte die Grünen-Politikerin.
- Nachrichtenagentur dpa