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Afghanistan | Ex-Brigadegeneral: "Jetzt hat man die schwierigste aller Lösungen"


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Kritik an Bundesregierung
Ex-Brigadegeneral: "Jetzt hat man die schwierigste aller Lösungen"


20.08.2021Lesedauer: 4 Min.
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"Verzweifelte Augen": So schwierig ist die Evakuierung der Deutschen und Afghanen aus Kabul. (Quelle: reuters)

So viele Menschen wie möglich retten – das ist das Ziel der Bundeswehr in Kabul. Volker Bescht kennt die Situation genau. In Libyen leitete er einen ähnlichen Einsatz und kritisiert nun die Bundesregierung.

"Sie könnten im Hintergrund Schüsse hören", warnt Brigadegeneral Jens Arlt in einer Liveschaltung des Verteidigungsministeriums. Arlt ist gerade an einem der gefährlichsten Orte der Welt und hat eine der schwierigsten Aufgaben: Deutsche und Ortskräfte aus Kabul auszufliegen. Dabei sind Arlt und die Soldaten der Bundeswehr selbst in Gefahr, denn außerhalb der Mauern des Flughafens patrouillieren die Taliban.

"Dass die Taliban Angriffe starten könnten, ist immer im Hinterkopf", sagt einer, der Arlt und die Gefahren Afghanistans gut kennt: Brigadegeneral a.D. Volker Bescht. Der 68-Jährige war Kommandeur der Luftlandebrigade 26, hat eine Evakuierungsmission in Libyen koordiniert und nach seiner Dienstzeit unter anderem für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Afghanistan gearbeitet. Bescht weiß, unter welchem Druck Arlt jetzt steht.

Vor den Toren des Flughafens drängen sich derzeit die Menschenmassen, es ist heiß und staubig. Auf Videos ist zu sehen, wie verzweifelte Frauen sogar ihre Babys an Soldaten weiterreichen – in der Hoffnung auf Rettung. Über 1.500 Deutsche, Afghanen und Menschen anderer Nationen hat die Bundeswehr bereits außer Landes gebracht. Es ist ihr bislang größter Evakuierungseinsatz.

"Dann kommt der Schlafentzug hinzu"

Auch für die Befehlshaber der Mission ist das eine schwierige Situation, weiß Experte Besch: "In so einem Gefechtsstand laufen jetzt viele Fäden zusammen, da brodelt es." Eine Flut an Informationen müsse geordnet und bewertet werden, mit den Leitern der sogenannten "Zellen", wie beispielsweise der Logistik, tausche man sich ständig aus. Immer passiert etwas, immer ist noch etwas zu tun. "Da brummt einem der Kopf und dann kommt der Schlafentzug hinzu", erklärt der ehemalige Brigadegeneral.

Das derzeit größte strategische Problem: Für die Ortskräfte wird es immer schwieriger zum Flughafen zu gelangen. Um evakuiert zu werden, brauchen sie Beweise für ihre Zusammenarbeit mit westlichen Staaten. Doch mit diesen Dokumenten müssen sie zuerst an den Taliban-Kämpfern vorbei. Werden sie erwischt, kann das ihr Todesurteil sein. Als zweites müssen die ehemaligen Helfer noch an den Amerikanern vorbei, die den Flughafen derzeit kontrollieren. Doch auch hier gab es in den letzten Tagen Probleme – auch für deutsche Staatsbürger.

Volker Bescht hat noch Kontakt zu ehemaligen Mitarbeitern in Afghanistan. Diese seien noch in ihren Häusern und hofften darauf, dass die Taliban noch nicht gezielt nach ihnen suchen. Doch genau dies scheint derzeit der Fall zu sein. Was also tun?

Hubschrauber der Spezialkräfte sind unterwegs

"Der derzeit vielversprechendste Weg, den Flughafen zu erreichen, ist mit Hubschraubern", so Bescht. Dafür müssten die Ortskräfte allerdings an einen Ort gebracht werden, an dem Hubschrauber landen können und sie nicht überrannt werden. Eine schwierige Situation. Die Bundeswehr scheint sie jedoch ebenfalls zu erwägen. Sie bestätigte am Freitag, dass Hubschrauber der Spezialkräfte nach Kabul unterwegs sind.

Alles viel zu spät, findet Bescht. "Spätestens als Masar-i-Sharif von den Militärs verlassen und von den Taliban eingenommen wurde, hätte in Kabul sofort mit der Evakuierung begonnen werden müssen", sagt er. Ortskräfte hätten zuerst raus gemusst, erst dann das deutsche Personal. Das wäre damals noch mit normalen Chartermaschinen gegangen. "Jetzt hat man die schwerste aller Lösungen genommen", sagt Bescht, und sei in einer Situation, in der zu Rettende nicht zum Flughafen gelangen und die Fallschirmjäger kaum mit Fahrzeugen hinausfahren können.

"Das ist wie ein überflutetes Fußballstadion", beschreibt der zuständige Kommandeur Arlt die Lage in Kabul. Die zu evakuierenden Menschen zu finden, sei wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

"Das zeigt die Not"

Doch selbst wenn die Menschen den Flughafen erreicht haben, ist der Einsatz längst nicht vorbei. Allein den Flugbetrieb aufrechtzuerhalten stellt die Militärs vor Ort vor eine Herausforderung. Dazu brauche es nicht nur Fluglotsen, damit die Maschinen nicht kollidieren, erklärt Bescht. Diese Aufgabe übernehmen die Amerikaner. Es müsse auch jederzeit damit gerechnet werden, dass "die Leute über die Zäune und den Stacheldraht steigen und das Rollfeld stürmen". So ist es am Montag vor dem Start der C17-Maschine der US-Amerikaner passiert, als Hunderte Menschen über die Laderampe geklettert sind und sich einige außen daran festgehalten haben. Die dramatischen Bilder gingen um die Welt.

Dass das Flugzeug dennoch gestartet ist, kann der ehemalige Brigadegeneral nachvollziehen. "Man rollt ja noch lange über den Runway und hofft vielleicht, dass die Menschen dann schon weggehen werden, zumal ich mir bis dahin auch nicht vorstellen konnte, dass sich Leute tatsächlich an einem Flugzeug festhalten. Das zeigt aber die Not", so Bescht.

Der Experte glaubt zudem, dass der Pilot vor allem seine Instrumente im Blick hatte und nicht sehen konnte, dass sich Menschen am Fahrwerk festhalten. Und in dieser Situation komme dann noch eine schwierige Aufgabe auf die Einsatzkräfte zu, über die selten gesprochen wird: Die unmögliche Abwägung von Menschenleben. "Ich habe über 600 Menschen an Bord, die will ich retten. Dass der Pilot gestartet ist, ist aus meiner Sicht berechtigt."

"Da hat man offensichtlich die Warnungen überhört"

Ein solches Szenario gab es am Flughafen Kabul in den Tagen danach nicht mehr. Die Luftbrücke scheint nun zu funktionieren. Mehrmals am Tag starten und landen die A400M-Transportflugzeuge der Bundeswehr in Kabul. "Wir evakuieren so lange es geht, so viele zu Schützende wie möglich aus Afghanistan", heißt es vonseiten des Verteidigungsministeriums.

Warum aber die Lage derart falsch eingeschätzt wurde, kann sich auch Bescht nicht erklären. "Da hat man offensichtlich die Warnungen überhört oder nicht hören wollen, weil man glaubte, das kann uns nicht treffen", sagt Bescht mit Blick auf Verteidigungs- und Außenministerium. Doch trotz der Fehleinschätzungen seitens der Politik sieht Bescht die derzeitige Evakuierungsmission in guten Händen. "Wir können froh sein, dass wir Jens Arlt dort unten haben, der umsichtig und cool genug ist, die Situation auch zu lösen."

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Volker Bescht
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
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