t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikAuslandKrisen & Konflikte

Ukraine-Krieg: Russland auf dem Vormarsch – "Wir müssen dringend mehr tun"


Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.

Russland auf dem Vormarsch
"Dann stünden die Russen an der Nato-Grenze"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 04.05.2024Lesedauer: 5 Min.
Russische Soldaten beim Training: Die Ukraine ist in schwerer Bedrängnis, warnt Historiker Jan C. Behrends.Vergrößern des Bildes
Russische Soldaten beim Training: Die Ukraine ist in schwerer Bedrängnis, warnt Historiker Jan C. Behrends. (Quelle: SNA/imago-images-bilder)
News folgen

Die ukrainische Front ist unter starkem Druck, es droht eine Offensive der russischen Armee. Deutschland und Europa müssen sich dieser Realität stellen und konsequent handeln, fordert Historiker Jan C. Behrends.

Russlands Armee ist auf dem Vormarsch, die Ukraine in der Defensive – wenig Grund für Wladimir Putin, sich auf Verhandlungen oder gar ein "Einfrieren" des Krieges einzulassen. Etwas, was sich verschiedene Politiker der Regierungspartei SPD erhoffen. Im Gespräch erklärt Jan C. Behrends, Historiker und selbst Mitglied der Sozialdemokraten, was Russland plant und warum in Deutschland mehr auf den Rat von Experten gehört werden sollte.

t-online: Professor Behrends, wie ausgeprägt ist der Realitätssinn der SPD in Sachen Russland? Zusammen mit anderen sozialdemokratischen Historikerinnen und Historikern haben Sie der Partei in einem Brandbrief "Realitätsverweigerung" attestiert.

Jan C. Behrends: Die SPD hat durchaus Realitätssinn gezeigt angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022. Ein deutlicher Beleg dafür sind die gerade durch Boris Pistorius erfolgenden Veränderungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das findet meine volle Unterstützung.

Loading...
Symbolbild für eingebettete Inhalte

Embed

Nun haben Sie und Ihre Kollegen den Brandbrief an den SPD-Vorstand nicht ohne Grund geschrieben.

Da haben wir die andere Seite der Medaille. Die Ukraine ist in schwerster Bedrängnis, die militärische Lage ist dramatisch, täglich sterben Zivilisten. Russische Durchbrüche finden bereits statt, noch bevor eine drohende Sommeroffensive überhaupt begonnen hat. Wir sehen nun, mit welchen Problemen die Ukraine ringt und wie massiv der Mangel an Waffen und Gerät dort ist. Tun wir also genug? Offensichtlich nicht. Wir müssen dringend mehr tun.

Experten – darunter Sie selbst – warnen und mahnen seit langer Zeit in dieser Hinsicht. Allerdings scheinen diese Ratschläge auf wenig Resonanz in der SPD wie in Teilen der Bundesregierung zu stoßen. Warum?

Es gibt generell – nicht nur im Falle der SPD – immer noch eine zu große Distanz zwischen politischen Entscheidungsträgern und Experten aus der Wissenschaft. Diese Distanz muss schwinden, denn der Einbezug von militärischer und politischer Expertise über Russland ist zur Entscheidungsfindung zentral.

(Quelle: privat)

Zur Person

Jan Claas Behrends, Jahrgang 1969, lehrt und forscht an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Osteuropas und hat die Gewaltkultur in der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart in verschiedenen Projekten untersucht.

Der Minderung von Distanz diente kürzlich ein Treffen zwischen SPD-Chef Lars Klingbeil und den Unterzeichnern des Brandbriefs inklusive Ihnen. War das Gespräch erfolgreich?

Über diesen gemeinsamen Austausch haben wir Vertraulichkeit vereinbart. Aber sein Zustandekommen ist an sich ein Zeichen, dass der Parteivorstand auf uns zugeht – und selbstverständlich erwarten wir Historiker, dass unser Ratschlag zukünftig innerhalb der SPD mehr Gehör finden wird.

Ist diese Hoffnung nicht trügerisch? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sorgte vor Kurzem mit einer Äußerung über "Kaliberexperten" für Unmut.

Was den Bundespräsidenten zu dieser Aussage veranlasst hat, kann nur er selbst wissen. Ich frage mich aber, welches Amtsverständnis Frank-Walter Steinmeier antreibt. Persönlich lehne ich Polemik gegen Experten ab: Diese Rhetorik sollten wir den Populisten überlassen.

Im Brandbrief wird die mangelnde Aufarbeitung der Russlandpolitik beklagt: einerseits in Hinsicht auf die "fehlgeleitete Energiepolitik", andererseits in Hinsicht auf "Verstrickungen verschiedener Genoss*innen mit Interessenvertretern Russlands". Sehen Sie dort Fortschritte?

Ein Parteitagsbeschluss, der sich von der Vergangenheit distanziert, ist noch lange nicht genug. Was wir dringend brauchen, ist eine historische Aufarbeitung durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die gesamte deutsche Russlandpolitik muss aufgearbeitet werden, denn es war nicht nur die SPD, sondern auch Angela Merkel und die CDU, die Putins Politik unterstützten. Der passende Ort dafür wäre der Bundestag. Bislang steckt die Aufarbeitung aber ohne jeden Zweifel noch in den Kinderschuhen.

Apropos personelle Verstrickungen mit Russland: Kürzlich enthüllte t-online die früheren engen Geschäftsbeziehungen des verstorbenen Stephan Kohler, ehemals Chef der Deutschen Energie-Agentur und Freund von Frank-Walter Steinmeier, nach Russland. Stehen solche biografischen Verbindungen der Aufarbeitung im Wege?

Es gibt Politiker, die schon aus biografischen Gründen wenig Interesse an einer Aufarbeitung haben. Sie stehen auf der Bremse. Ich schätze auch, dass Fälle wie der von Stephan Kohler lediglich die Spitze des Eisbergs sind. Aber am Ende geht es doch um unsere Sicherheit, um die Sicherheit Europas und eine progressivere und bessere Russlandpolitik für die Zukunft. Wenn das nicht ausreichend Gründe sind, um die Aufarbeitung weiter voranzutreiben, dann weiß ich keine.

Rolf Mützenich, Fraktionschef der SPD im Bundestag, sprach sich vor nicht allzu langer Zeit für ein "Einfrieren" des Krieges gegen die Ukraine aus. Wie lautet Ihre Einschätzung als Historiker zu diesem Ansinnen?

Um Russlands Position und unsere Möglichkeiten zu verstehen, gilt es die innere Entwicklung des Landes studieren. Seit 2022 hat sich das Regime in eine persönliche Diktatur Putins mit scharfen Repressionen und totalitären Anklängen entwickelt, es herrscht Mobilisierung und der Kreml hat auf Kriegswirtschaft umgestellt. All dies deutet darauf hin, dass Putin sich auf einen langen Krieg vorbereitet und ihn auch zu führen bereit ist. Daran müssen wir unsere Politik ausrichten, nicht an unseren Illusionen über Russland – das wurde 16 Jahre unter Merkel versucht. Das Ergebnis sehen wir.

Warum halten Sozialdemokraten wie Rolf Mützenich oder auch Ralf Stegner an solchen Vorstellungen fest?

Ich denke, dass sie das friedenspolitische Projekt ihrer Generation, das mit der Friedensbewegung in den Achtzigerjahren gestartet ist, weiter verteidigen. Was nicht in dieses Schema passt, wird weitgehend ignoriert. Ich vermisse einen Lernprozess – beide sind doch in Kiew gewesen und haben die Lage dort gesehen.

"Geschichte sollte man zu erklären versuchen", schrieb Heinrich August Winkler, Mitunterzeichner des aktuellen Brandbriefs an den SPD-Vorstand, bereits 2016 im sozialdemokratischen "Vorwärts". "Verklären sollte man sie nicht."

Womit er auch recht hat. Wichtig ist die Akzeptanz der bitteren Realität, wie wir sie in unserem Brief einfordern. Putins Russland befindet sich gerade auf dem Weg zurück in Richtung Stalinismus, das sehen wir in den Repressionen, der Propaganda und der Kriegswirtschaft. Es sind noch nicht die Dimensionen des Stalinschen Terrors, aber es sind die sowjetischen Methoden, die Repressionen, die Verbrechen, die wir kennen. Das ist an sich schon dramatisch, doch insbesondere die Kriegswirtschaft in Russland zwingt uns dazu, selbst mehr Munition und Waffen herzustellen, damit die Ukraine diesen Krieg nicht verliert. Denn dann stünden die Russen an der Nato-Grenze. Ein "Einfrieren" des Krieges – was zurzeit überhaupt nicht im russischen Interesse liegt – könnte übrigens weit herausfordernder sein, als es manche wahrhaben wollen.

Loading...
Loading...

Bitte erklären Sie.

Jede Art von Friedensverhandlungen müsste von umfänglichen Sicherheitsgarantien der Nato und vor allem der Europäer für die Ukraine begleitet werden. Alles andere wäre schwer vorstellbar, es würde scheitern wie Minsk, da Putin Verträge bricht. In letzter Konsequenz müsste der Westen eventuell bereit sein, Truppen in der Ukraine zu stationieren, um die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Ähnlich wie es seit den Fünfzigerjahren an der innerkoreanischen Grenze der Fall ist. Unter Umständen könnten wir als Garantiemacht also noch viel stärker in den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hineingezogen werden. Das sollten wir bedenken.

Nun ist die Aussicht auf Verhandlungen derzeit ausgesprochen gering.

Wir können Putin auch nicht vertrauen, er hat sämtliche Verträge gebrochen. 2015 unterzeichnete er in Minsk einen Waffenstillstand, den er in derselben Nacht gebrochen hat. Mit einem solchen Mann verhandeln? Nur aus einer Position der Stärke.

Professor Behrends, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jan C. Behrends via Telefon
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website