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Putin im Interview mit Tucker Carlson: Die bizarre Geschichtsstunde


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Interview mit Tucker Carlson
Putins bizarre Geschichtsstunde


09.02.2024Lesedauer: 5 Min.
Wladimir Putin im Interview: Im Gespräch argumentierte Russlands Präsident pseudohistorisch.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin im Interview: Im Gespräch argumentierte Russlands Präsident pseudohistorisch. (Quelle: Gavriil Grigorov/reuters)
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Wladimir Putin hat dem rechten US-Moderator Tucker Carlson ein Interview gegeben. Wer auf Sensationen hoffte, wurde enttäuscht. Der Kremlherrscher offenbarte erneut, dass er in einer anderen historischen Realität lebt. Eine Auslese.

127 Minuten – so lange stand Wladimir Putin dem amerikanischen Moderator Tucker Carlson in einem Interview Rede und Antwort. Wobei es vor allem "Rede" anstelle von "Antwort" war, was Zuschauer in dem am Donnerstag veröffentlichten Interview zu hören und sehen bekamen. Putin monologisierte über weite Teile des Gesprächs.

Für Russlands Präsidenten war das Interview – das erste, das Putin seit Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine am 24. Februar 2022 einem westlichen Interviewpartner gegeben hat – eine Gelegenheit, seine pseudohistorische "Begründung" für den völkerrechtswidrigen Krieg auch im Westen erneut zu propagieren.

Historisch unbedarft

Mit Tucker Carlson hatte der Kremlchef dazu den "richtigen" Interviewer gefunden: historisch unbedarft, devot und Verschwörungsmythen derart zugewandt, dass sich selbst Carlsons stramm rechter US-Stammsender Fox News 2023 von ihm trennte. Mit seinem "Tucker Carlson Network" macht der Republikaner nun weiter, dort wurde auch das Gespräch mit Putin online gestellt. Hier finden Sie eine Auslese historischer Lügen, Halbwahrheiten und Unkenntnisse, die das Carlson-Putin-Interview auszeichnen:

Bereits der Beginn des Interviews zeugt von Carlsons gewollter oder zumindest fahrlässiger historischer Unkenntnis. Für den Amerikaner beginnt der Konflikt Russlands mit der Ukraine im Februar 2022, als russische Truppen das Land überfielen. Das ist falsch. "Der Krieg Russlands gegen die Ukraine begann nicht erst am 24. Februar 2022", schreibt hingegen Andreas Kappeler in seinem Buch "Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart". Völlig zu Recht.

Kappeler betont, dass der Konflikt "bereits acht Jahre früher mit der völkerrechtswidrigen Annexion der unter ukrainischer Hoheit stehenden Halbinsel Krim und der von Russland angezettelten und mit Waffen, Söldnern und Soldaten unterstützten Besetzung von Teilen des Donbass durch lokale Milizen" begonnen hat. Nicht dieser Fakt schließt sich im Interview an, sondern Tucker Carlson erhält vielmehr eine "Geschichtsstunde" à la Putin. "30 Sekunden" oder "1 Minute", so kündigt es der Kremlchef an, soll das Ganze dauern. Es wird länger. Viel länger.

Kein Wunder, denn Putin beginnt seine historischen Ausführung im 9. Jahrhundert. Über Wikinger, Mongolen etc. mäandert sich Putin langatmig dem Objekt seiner Begierde an: der Ukraine. Tucker Carlson lauscht, verloren im Mahlstrom von Putins Worten. Einmal wagt er die Frage, von welcher Zeit Putin gerade rede, an einer anderen Stelle will er wissen, welche Relevanz Putins Gang durch die Jahrhunderte überhaupt habe. Kritische Nachfragen? Richtigstellung? Einordnung? Derlei erspart sich Carlson.

Video | Bedrohung des Westens? Bei dieser Frage muss Putin grinsen
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Quelle: t-online

Die Zaren wollten alles

Putin spricht über die Rivalität Moskaus mit der westlich gelegenen Großmacht Polen-Litauen, die Russen stellt er einseitig als "Opfer" von deren geopolitischen Ambitionen dar. Für ihn sind Kiew und die Ukraine "ur-russische" Länder, die durch auswärtige Machenschaften von Russland getrennt worden seien. Was Putin ignoriert, und Andreas Kappeler erklärt: "Vom 14. bis 17. Jahrhundert gingen Russen und Ukrainer getrennte Wege".

Die Ukraine war lange Zeit Teil Polen-Litauens, sie erhielt Zugang zu mittel- und westeuropäischer Kultur. Und veränderte sich dadurch nachhaltig. Was Putin nicht wahrhaben will, wie das Interview deutlich macht. Wie aber kam die Ukraine dann zu Russland? 1648 ereignete sich eine Rebellion der Ukrainer gegen die polnische Herrschaft, die Saporoger Kosaken gründeten mit dem "Hetmanat" einen Staat – in der heutigen Ukraine wird es als eine Art Gründungsakt der Nationalstaatlichkeit des Landes gewertet.

Zugleich suchten die Kosaken die Unterstützung Moskaus gegen Polen. Wobei es zu einem Missverständnis kam: Seitens der Kosaken war die Verbindung zu Russland ein Zweckbündnis auf Augenhöhe, für die Zaren war es eine Unterwerfungsgeste der Ukrainer, die fortan als sogenannte Kleinrussen "verniedlicht" wurden. Eine Trennung der Ukraine von Russland, gar eine nationale Eigenständigkeit der Ukraine? Für die Zaren ebenso undenkbar wie für Putin heute.

Erst die Wirren des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution machten einen neuen ukrainischen Staat möglich. Wie? Für Putin im Interview wiederum eine Intervention fremder Mächte. Der österreichisch-ungarische Generalstab habe die Idee der "Ukrainisierung" befördert, um das Zarenreich als Kriegsgegner zu schwächen. Dass die Ukrainer aus eigenem Antrieb einen Nationalstaat anstrebten, ist Putin offensichtlich keinen Gedanken wert. Überall sieht er fremde Mächte Intrigen gegen Moskau spinnen.

Putins Traumwelt

Und nicht nur auswärtige Mächte: Auch dem einst in der Sowjetunion verehrten Revolutionsführer Lenin macht Putin Vorwürfe. Die Sowjetukraine habe Lenin ihre Existenz zu verdanken, "unerklärlich" hätte die Verfassung der UdSSR ihren Mitgliedern sogar das Recht zum Austritt eingeräumt. Putin wirkt im Interview ehrlich konsterniert darüber.

Dabei verfolgte Lenin durchaus ein Ziel mit seiner Politik. "Die Zaren unterbanden seit dem 19. Jahrhundert innerhalb ihres multiethnischen Reiches kategorisch alle Formen eines nationalen Erwachens, auch daran scheiterte das Russische Imperium letztlich", erklärt der Historiker Stefan Creuzberger im t-online-Interview. "Lenin wollte diese Spannungen einhegen, indem er eine wesentlich liberalere Nationalitätenpolitik betrieb."

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker gilt einem Machtpolitiker wie Putin allerdings wenig, zumal er die Ukrainer nicht als eigenständige Nation anerkennt. Stichwort: westliche Intrigen. Die Hinwendung der Ukraine gen Westen, die Proteste des Euromaidan gegen den pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch: für Putin ein von der amerikanischen CIA gesteuerter Staatsstreich. Alles mit dem Ziel, Russlands zu schaden. Serhii Plokhy, ukrainisch-amerikanischer Harvard-Historiker, sieht den Euromaidan hingegen im Gespräch mit t-online als "eine Absage an eine autoritäre Herrschaft ebenso wie an russische Einflussnahme".

Im Interview spinnt Putin auch ein Netz an Verschwörungsmythen rund um die Osterweiterung der Nato, die Moskau von jeher ein Dorn im Auge gewesen ist. Der Westen sei wortbrüchig geworden. Aber ist da etwas dran? Die amerikanische Historikerin Mary E. Sarotte hat mit "Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung" ein Buch darüber geschrieben.

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Manifest des Scheiterns

"Nun kommen wir zum Zwei-plus-Vier-Vertrag, dessen Unterzeichnung im September 1990 die Deutsche Einheit überhaupt erst ermöglicht hat", sagte Sarotte t-online. "Dieser Vertrag erlaubt es der Nato, sich nach Osten auszudehnen, auch wenn Russland das anders sieht." Und insbesondere Putin, der im Laufe des Interviews anhand zahlreicherer weiterer historischer Fakten zu belegen sucht, dass Russlands Aggression als eine Art "Notwehr" gerechtfertigt sei.

Tucker Carlson scheitert dabei in seiner Rolle als vorgeblicher kritischer Interviewer vollkommen, wenn er Kritik an Putin überhaupt jemals eingeplant hatte. Offensichtlich sieht er seine Aufgabe eher im Geben von Stichpunkten. Im Ergebnis kommt Tucker Carlson zu dem Schluss, dass Putin tatsächlich glaubt, Russland habe einen "historischen Anspruch auf Teile der Westukraine". Die ukrainischen Soldaten, die ihr Land gegen Putins Truppen verteidigen, sind anderer Meinung. An der Verteidigung der historischen Realität ist Carlson jedenfalls gescheitert. Vollkommen.

Verwendete Quellen
  • Andreas Kappeler: "Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart", erweiterte Neuausgabe, München 2023
  • Mary E. Sarotte: "Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung", München 2023
  • Serhii Plokhy: "Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt", Hamburg 2023
  • t-online: "'Das war eine Kampfansage an die westliche Welt'"
  • t-online: "'Für Putin ist das ein Fall von Verrat'"
  • t-online: "'Putin stellte eine ultimative Forderung'"
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