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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte zum Nahen Osten "Das macht die Lage so ungeheuer gefährlich"
Premier Benjamin Netanjahu wollte den Rechtsstaat schleifen, Hunderttausende protestierten dagegen. Zugleich droht Iran zur Atommacht aufzusteigen. Wie gefährdet ist Israel? Experte Richard C. Schneider gibt Antworten.
75 Jahre alt wird Israel in diesen Tagen – seine Existenz ist bedroht wie eh und je. Der Iran hat das Land zum Todfeind erklärt, seine Helfer von Hisbollah und Hamas stehen an Israels Grenze. Zugleich greift das Regime der Mullahs nach der Atombombe.
Damit aber nicht genug der Probleme: Benjamin Netanjahu, der es immer wieder zum Premierminister bringt, ist mithilfe von Extremisten an die Macht zurückgekehrt. Mit einer sogenannten Justizreform wollte er sich das Regieren einfacher machen und Rechtsstaat und Demokratie demontieren. Der Widerstand Hunderttausender Bürger vereitelte diese Pläne – bislang.
Richard C. Schneider ist einer der besten Kenner Israels. Im t-online-Interview erklärt er, wie groß die Kriegsgefahr im Nahen Osten derzeit ist und welcher grundlegende Konflikt in Israels Gesellschaft derzeit ausgetragen wird.
t-online: Herr Schneider, Israel war vom ersten Augenblick seiner Existenz an von der Zerstörung bedroht. Wie hoch ist augenblicklich die Kriegsgefahr in der Region?
Richard C. Schneider: Die Kriegsgefahr ist im Moment nicht höher oder niedriger als sonst. Seit vielen Jahren findet ein Schattenkrieg zwischen Iran und Israel statt – gewissermaßen über Bande in Form der vom Iran unterstützen Hisbollah im Libanon oder der Hamas und dem Islamischen Dschihad in Gaza. In diesem Schattenkrieg könnte eine der beiden Seiten jederzeit die Lage falsch einschätzen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine unbedachte Aktion dann tatsächlich in einem "richtigen" Krieg endet.
Die Hisbollah im Norden, die Hamas im Gazastreifen: Israels Feinde haben viel geografischen Raum für Provokationen.
Mit Unterstützung Irans zündeln Hisbollah und Hamas verstärkt – aber gegenwärtig noch in einem begrenzten Maß, das Israel nicht zu großen Reaktion herausfordert. So feuert die Hamas Raketen ab, woraufhin die israelische Luftwaffe Ziele im Gazastreifen angreift. Das war es dann auch wieder – bis zur nächsten Provokation. Und zuletzt war es der Islamische Dschihad, der ebenfalls vom Iran finanziert wird.
Was geschähe, stürbe in Israel eine große Zahl an Zivilisten bei einem Raketengriff?
Dann haben wir ganz schnell wieder Krieg. Es gibt keinerlei Sicherungsmechanismen, keine Notbremse. Im Falle der Hamas und des Islamischen Dschihads könnte sich wenigstens noch Ägypten mäßigend einschalten, aber im Falle der Hisbollah und des Irans ist das viel schwieriger.
Richard C. Schneider, Jahrgang 1957, ist Journalist, Buch- und Fernsehautor. Von 2006 bis Ende 2015 war er ARD-Studioleiter und Chefkorrespondent in Tel Aviv, 2016/17 Chefkorrespondent im ARD-Studio Rom. Schneider ist Experte für die Gesellschaft Israels und die Geschichte des Nahostkonflikts, regelmäßig berichtet er für den "Spiegel" über die Region. Gerade ist mit "Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land" sein neuestes Buch erschienen.
Klingt bedrohlich.
Ist es auch. Tatsächlich ist der Schattenkrieg im Nahen Osten eine schwer durchschaubare Angelegenheit. Die Hisbollah greift an, die israelische Armee schlägt zurück: Die Frage ist immer, was wird jeweils attackiert? Es sind Ziele, die der Gegenseite weh tun, aber eine rote Linie (noch) nicht überschreiten. Einerseits gelingt es so, der Gegenseite zu schaden. Andererseits macht man ebenso deutlich, dass die Sache doch nicht allzu sehr eskalieren soll. Das macht die Lage aber so ungeheuer gefährlich, weil sie dennoch schnell aus dem Ruder laufen kann.
Der Iran hat während des syrischen Bürgerkriegs seine Macht in der Region ausgebaut. Wie hat sich die Lage dadurch verändert?
Die israelische Luftwaffe greift seit Jahren massiv iranische Ziele in Syrien an – alles mit Einwilligung Russlands. Das Ziel besteht darin, die Iraner und ihre Helfer von der israelischen Grenze fernzuhalten, sowie iranische Waffensysteme, die nach Syrien gebracht werden, zu vernichten. So soll das Schlimmste verhindert werden.
Das Worst-Case-Szenario besteht in der Fertigstellung einer iranischen Atombombe. Wie ernst ist die Lage?
Experten schätzen, dass die Iraner innerhalb von 14 Tagen über ausreichend waffenfähiges Plutonium verfügen könnten, um eine Bombe zu bauen. Das bedeutet nicht, dass sie sie auch gleich abschießen können. Eine derartige Rakete zu konstruieren, wird noch ein bis zwei Jahre dauern. Wir sollten aber realistisch sein: Der Iran könnte bald über Atomwaffen verfügen. In deren Reichweite übrigens auch europäische Ziele liegen würden.
1981 zerstörten israelische Kampfjets die irakischen Reaktoren Tammuz 1 und Tammuz 2. Ist ein ähnliches Szenario für das iranische Atomprogramm denkbar?
Seit Benjamin Netanjahu wieder Premierminister ist, wird über mögliche Vorbereitungen für einen derartigen Angriff gesprochen. Dahinter steckt selbstverständlich auch psychologische Kriegsführung; es ist schwer auszumachen, was davon ernst gemeint ist. Ein militärischer Angriff Israels auf Irans Atomanlagen wäre jedoch riskant: Denn die Hisbollah würde dann auf alle Fälle ihre rund 150.000 Raketen auf Israel abfeuern wollen. Parallel müsste Israel den Libanon deswegen wohl schnell und massiv bombardieren. Und dann wären da noch die Raketen aus Gaza, die Israel ebenfalls bedrohen werden.
2015 sollte ein Atomabkommen mit dem Iran die Atombombe eigentlich verhindern sollen. Dann kündigte Donald Trump die Vereinbarung.
Das ist sehr tragisch. Netanjahu hatte bereits vor der iranischen Bombe gewarnt, als Europäer und Amerikaner die Gefahr noch nicht ernst nahmen. Auch wegen Netanjahus Drohungen, Israel werde bald den Iran angreifen, wurde das Atomabkommen möglich, da die internationale Gemeinschaft große Angst vor einem neuen Krieg im Nahen Osten hatte. Doch ausgerechnet Netanjahu überredete US-Präsident Donald Trump, aus dem Vertrag wieder auszusteigen, weil er ihn nicht gut fand. Doch seitdem hat der Iran seine Urananreicherung immer weiter ausgebaut. Und kann nicht kontrolliert werden.
Das Abkommen hatte allerdings massive Schwächen.
Ja. Die Iraner konnten munter weiter ihre Raketen bauen. Das Geld, das durch die Aufhebung von Sanktionen ins Land kam, investierte Teheran dann zum Beispiel im Libanon bei der Hisbollah. Außerdem war das Abkommen zeitlich befristet.
Wäre ein schärferes Abkommen von den Mullahs überhaupt akzeptiert worden?
Es ist alles eine Frage des entsprechenden Drucks. Die Geschichte lehrt uns eine traurige Lektion: Man kann einen Feind nur zu einem Abkommen drängen, wenn er besiegt ist oder die Niederlage fürchten muss. Hätten die USA dem Iran mit militärischer Gewalt ernsthaft gedroht, wäre wohl mehr drin gewesen. So aber hat Netanjahu Trump schließlich dazu überredet, aus dem Abkommen auszusteigen. Das war dann noch schlimmer.
Nun haben die Proteste im Iran gezeigt, dass das Regime nicht so stabil ist, wie es schien.
Es kommt noch schlimmer: Ayatollah Ali Chamenei ist 84 Jahre alt und an Krebs erkrankt. Irans starker Mann wird also bald sterben, die Diadochenkämpfe laufen bereits. Die Hardliner suchen die Provokation.
Aber auch in Israel ist die innenpolitische Lage alles andere als stabil. Gegen Netanjahus umstrittene "Justizreform", die Demokratie und Rechtsstaat schleifen sollten, gibt es Massenproteste. Keine gute Voraussetzung für eine schwere außenpolitische Krise.
Das israelische Militär ist überhaupt nicht glücklich mit dieser Regierung. Nicht weil sie rechts oder links ist, sondern schlichtweg dysfunktional. Die Probleme sind eklatant. Nehmen wir das Sicherheitskabinett, in dem wichtige Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik behandelt werden: Darin sitzt seitens der Regierung kaum jemand mit militärischer Erfahrung. Itamar Ben-Gvir, Minister für Nationale Sicherheit, hat überhaupt keine vorzuweisen. Er war schon als Jugendlicher derart extremistisch unterwegs, dass die Streitkräfte ihn nicht haben wollten.
Also ist Netanjahu als früheres Mitglied der Spezialeinheit Sajeret Matkal als einziger in der Lage, die militärische Bedrohungslage einzuschätzen?
Das ist tatsächlich so. Er, Verteidigungsminister und Ex-General Yoav Gallant und einige wenige andere. Ein Geheimdienstmitarbeiter hat mir einmal eingestanden, dass er sich nach den Zeiten sehnt, in denen er es noch mit verantwortungsbewussten Politikern zu tun hatte. Viele von Netanjahus Koalitionspartnern haben nicht einmal Ahnung, wie Politik funktioniert – weil sie sich als Aktivisten und nicht als Politiker betätigt haben.
Für wie stabil halten Sie die israelische Demokratie dann noch?
In Israel sehen wir keine Krise des politischen Systems. Es ist Benjamin Netanjahu, an dem sich die Geister scheiden. Denken Sie mal an die Vorgängerkoalition: Unter den acht Regierungspartnern waren ausgemachte Mitte-rechts-Parteien: Jisra’el Beitenu von Avigdor Lieberman, Tikwa Chadascha unter Gideon Sa’ar und die HaJamin HeChadasch von Naftali Bennett und Kachol-Lavan von Benny Gantz. Alle vier Männer hatten in der Vergangenheit mit Netanjahu zusammengearbeitet – und wollen das auf keinen Fall wiederholen. Denn niemand von ihnen vertraute Netanjahu mehr. Sie fühlten sich belogen und hintergangen.
Also wäre Netanjahus Rückzug aus der Politik das Beste, was Israel passieren könnte?
Verschwände Netanjahu aus der Politik, hätten wir im Nu eine große Mitte-rechts-Koalition ohne Probleme. Das System selbst wäre stabil, nur Netanjahu als Person spaltet.
Mit seiner "Justizreform" haben die Israelis Netanjahu bis jetzt nicht durchkommen lassen.
Und die Proteste gehen weiter – im Großen und im Kleinen! Das ist auch richtig so. Denn was wir im Augenblick erleben, ist im Grund genommen die Auseinandersetzung um das Wesen und die Seele dessen, was der Staat Israel sein soll. Es gibt im Judentum traditionell zwei Strömungen, Universalismus und Partikularismus. Extreme Partikularisten werfen den Universalisten vor, dass es ihnen wichtiger wäre, dass Israel eine Demokratie ist nach dem westlichen Prinzip und nicht an erster Stelle ein jüdischer Staat mit der Halacha, dem Religionsgesetz. Sie sehen, wie tief die Auseinandersetzung geht.
Geeint werden die Lager aber doch durch die Bedrohung von außen?
In Israel ist gerade ein Lied populär, eine Zeile daraus lautet: " Ein li Eretz acheret." Übersetzt: "Ich habe kein anderes Land." Genauso ist es. Die Araber können viele Kriege verlieren, Israel aber keinen einzigen. Und Sie haben recht, selbstverständlich eint die gemeinsame Bedrohung. Egal, ob man ein linksliberaler Jude aus Tel Aviv im T-Shirt oder ein Ultraorthodoxer im Kaftan ist.
Herr Schneider, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Richard C. Schneider via Videokonferenz