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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Reise in die Ukraine Was kann Scholz erreichen?
Lange wollte er nicht, jetzt doch: Bundeskanzler Scholz ist in Kiew eingetroffen. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Reise, die in mehrfacher Hinsicht heikel ist.
Es ist ein Foto, das am Donnerstagmorgen auftaucht – und das die letzten Zweifel ausräumt: Bundeskanzler Olaf Scholz fährt nach Kiew. Auf dem Bild ist er gemeinsam mit dem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi in einem Zug zu sehen.
Lange hat er sich den Rufen nach einer solchen Reise verweigert. Jetzt ist er doch gefahren. Doch wie geht es nun weiter? Die wichtigsten Fragen und Antworten zur heiklen Reise:
Wie ist die aktuelle Lage im Ukraine-Krieg?
Nach den schweren russischen Niederlagen im Westen des Landes hat der Kreml große Teile seiner Ressourcen für die Eroberung des Donbass im Osten der Ukraine zusammengezogen. Selbst kleinere Städte wie Sjewjerodonezk werden dort zu Zentren schwerer Kämpfe. Bei der Verteidigung der Gebiete erleidet die ukrainische Armee schwere Verluste – hauptsächlich aufgrund der überlegenen Feuerkraft der russischen Artillerie. Laut Angaben aus Kiew hat Russland 20 Prozent des ukrainischen Gebiets unter Kontrolle.
Trotzdem schließt die Ukraine Gegenoffensiven nicht aus. Jüngst kündigte Präsident Selenskyj an, die seit 2014 besetzte Halbinsel Krim zurückerobern zu wollen. Im Südosten des Landes halten Experten ukrainische Vorstöße für aussichtsreicher. Die Verteidigung der Ukraine und ihre Möglichkeiten für Gegenoffensiven hängen allerdings an der Unterstützung des Westens. Dringend benötigt werden Artillerie, Munition und schwere Waffen. Gerade bei der Lieferung dieser Militärmittel bremst aus Sicht der Ukraine und mancher Verbündeter ausgerechnet Deutschland.
Was kann die Reise konkret erbringen?
Die Erwartungen an eine Kiew-Reise des Bundeskanzlers sind gewaltig – was Olaf Scholz vor allem sich selbst zu verdanken hat. Er wolle nicht "für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin" nach Kiew reisen, so begründete er bislang sein monatelanges Zögern unter anderem. Es müsse "immer um ganz konkrete Dinge" gehen, sagte Scholz.
Eine Reise nur als Symbol der Unterstützung, das wird also nicht ausreichen. Gut möglich also, dass es zumindest intern auch um sehr komplizierte Fragen geht, die bisher ungeklärt sind: Zum Beispiel die Frage, was eigentlich genau die "Sicherheitsgarantien" bedeuten sollen, die Deutschland der Ukraine versprochen hat, wenn es irgendwann einen Waffenstillstand gibt. Die Vorstellungen darüber gehen dem Vernehmen nach jedoch weit auseinander, weshalb konkrete Ergebnisse unwahrscheinlich sind.
Doch Scholz muss ein konkretes Ergebnis präsentieren, um seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Naheliegend wäre einerseits, dass der Bundeskanzler neue Waffenlieferungen ankündigt. Andererseits wären der Zeitpunkt und die Dreierkonstellation mit den wichtigen EU-Staaten Frankreich und Italien gut geeignet, um der Ukraine weitere Hoffnungen auf einen möglichst raschen EU-Beitritt zu machen. Vor dem EU-Gipfel am 23. und 24. Juni wäre es deshalb denkbar, Selenskyj zuzusichern, dass die Ukraine offiziell Beitrittskandidat wird.
Wie kommt man überhaupt in Kriegszeiten nach Kiew?
Anders als bei Staatsbesuchen sonst üblich, können Scholz und seine Reisepartner nicht direkt ans Ziel fliegen. Der Luftraum über der Ukraine ist weiterhin gesperrt. Es kommt auch immer wieder zu vereinzelten Angriffen auf Ziele in der Hauptstadt. Scholz ist deshalb – wie viele andere Besucher vor ihm – mit dem Zug zu Selenskyj fahren.
Zunächst flog Scholz mit dem Regierungsflieger nach Polen, zum Flughafen Rzeszow. Der eigentlich zivile Flughafen dient seit Kriegsbeginn als wichtiges Drehkreuz, über das Hilfslieferungen des Westens an die Ukraine abgewickelt werden. Von Rzeszow sind es noch gut 100 Kilometer bis an die ukrainische Grenze.
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Wie die "Bild"-Zeitung berichtet, fuhr Scholz anschließend mit dem Auto weiter, bis er nachts dann einen eigens gecharterten Zug gemeinsam mit Draghi und Macron bestieg. Schon Oppositionschef Friedrich Merz reiste Anfang Mai im Schlafwagen nach Kiew. Die Fahrtzeit von der Grenze über Lwiw in die Hauptstadt beträgt regulär knapp 12 Stunden.
Wie könnte Putin reagieren?
Das ist nicht sicher. Als Ursula von der Leyen Anfang April mit dem Zug nach Kiew reiste, bombardierten russische Truppen einen Bahnhof im ostukrainischen Kramatorsk. Weit weg von der Reiseroute der Kommissionspräsidentin, aber dennoch ein auffälliges Signal. Dutzende Zivilisten kamen bei dem Angriff ums Leben.
Auch jetzt wird im Kreml der anstehende Besuch der drei Staats- und Regierungschefs genau beobachtet. Möglich, dass Putin die Drosselung der Gaslieferung durch die Nord-Stream-Pipeline als Signal verstanden wissen will. Selbst wenn die offizielle Begründung von Gazprom eine andere ist, möglicherweise, um sich vertragsrechtlich nicht angreifbar zu machen.
Zudem dürfte man im Umfeld von Putin darauf hoffen, dass beim Besuch ein Dissens zwischen den Staatschefs erkennbar wird oder ein Zeichen dafür entsteht, dass der Westen allmählich kriegsmüde wird. Die russische Staatspropaganda könnte dieses Narrativ sofort verbreiten.
Möglich ist aus dieser Sicht jedoch auch, dass Putin seinen Truppen Zurückhaltung auferlegt. Denn mit der Reise der drei EU-Vertreter kann das russische Feindbild gestärkt werden: Seht her, alle haben sich gegen uns verschworen und sie müssen sich nun schon gegenseitig unterstützen. Ob das aber auch wirklich eintritt, ist offen. Der Krieg hat bewiesen: Putin ist unberechenbar.
- Eigene Recherchen