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Experte erklärt Russlands Offensive: "Putin will ukrainische Kultur zerstören"


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Neue russische Offensive
"Putins Pläne reichen noch viel weiter"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 16.04.2022Lesedauer: 5 Min.
Wladimir Putin: Der russische Präsident hatte den Krieg gegen die Ukraine propagandistisch vorbereitet.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident hatte den Krieg gegen die Ukraine propagandistisch vorbereitet. (Quelle: Alexei Nikolsky/Russian Presidential Press and Information Office/imago-images-bilder)

Russische Truppen führen den Krieg in der Ukraine immer brutaler, nun steht ein neuer Angriff bevor. Wie die ukrainische Armee reagieren könnte, erklärt Historiker Bastian Matteo Scianna.

t-online: Herr Scianna, Russland führt einen Krieg gegen die Ukraine, der nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten und Bildern ausgetragen wird. So will Wladimir Putin das angegriffene Nachbarland "entnazifizieren". Was ist davon zu halten?

Bastian Matteo Scianna: Propagandistisch hat Putin den Krieg bereits seit längerer Zeit vorbereitet. Seit Jahren zeigt das russische Fernsehen zum Beispiel verstärkt Eigenproduktionen von Filmen über den Zweiten Weltkrieg, die die Rote Armee und ihre militärischen Taten glorifizieren. Der 9. Mai wurde als Feiertag in immer neue Sphären gehoben.

Bastian Matteo Scianna, Jahrgang 1987, ist seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam. Der Historiker lehrt und forscht über deutsche Außenpolitik, europäische Integration und verfasst seine Habilitationsschrift über die Geschichte des Schengener Abkommens. Er ist Mitautor des Buches "Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkonflikt", das 2021 erschienen ist.

In der Gegenwart kämpfen die russischen Truppen aber nicht mehr gegen die nationalsozialistische Wehrmacht, sondern gegen die Ukraine.

Wladimir Putin instrumentalisiert und verdreht die Geschichte. So kämpften im Zweiten Weltkrieg und auch danach ukrainische Nationalisten gegen die Sowjetunion. In der Gegenwart behauptet nun die russische Propaganda, dass sich die Ukraine angeblich "erneut" unter der Kontrolle einer nationalsozialistischen Verschwörung befinde, die wiederum vom Westen gesteuert, Russland bedrohe. Die Propaganda des Kremls spricht von "De-Nazifizierung", das Ziel ist aber eine "De-Ukrainisierung".

Russland will diese vorgebliche Bedrohung also "ausschalten" und die Ukraine "befreien". Wie passen dazu aber Bilder aus Butscha, wo nach dem Abzug der russischen Truppen zahlreiche getötete Zivilisten aufgefunden worden sind? Und begeht Russland einen "Genozid", wie es der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt?

Bei der Betrachtung müssen wir die politische Absicht und die militärische Umsetzung gleichermaßen berücksichtigen und unterscheiden. Genozid oder Völkermord sind politische und auch juristische Begriffe. Zum einen soll damit die Weltgemeinschaft aufgerüttelt und Hilfe mobilisiert werden. Die Begriffe wurden in jüngster Vergangenheit zum Beispiel 1999 im Kosovo oder 2014 in Bezug auf die Jesiden als Grund für eine westliche Intervention ins Feld geführt.

Den Internationalen Strafgerichtshof einzuschalten und die Verbrechen nun zu untersuchen, um einen Genozid auch juristisch nachweisen zu können, ist sinnvoll. Russland will die Ukraine in ihrer jetzigen Form auflösen – und das mit Gewalt. Putins Pläne reichen aber noch viel weiter. Denn er will ebenso die ukrainische Kultur und Identität zerstören.

Dabei gibt es eine ukrainische Identität nach Putins Ansicht gar nicht. So absurd das auch klingen mag.

Richtig. Nun stellt sich anschließend die Frage, welche Auswirkungen diese politischen Ziele und Erklärungen auf die militärische Praxis haben. Wurden schriftliche Befehle an die russischen Soldaten ausgegeben, die Ukrainer insgesamt oder zu großen Teilen zu töten? Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass Russland strukturell organisiert einen derartigen Vernichtungskrieg führt.

Wie erklären sich aber die Toten von Butscha?

Das ist eine gute Frage, wir wissen einfach noch zu wenig darüber, was sich an diesem Ort genau abgespielt hat. Fakt ist aber, dass die Zahl der von russischen Truppen begangenen Kriegsverbrechen zunimmt. Wahrscheinlich spielt das situative Element, das bei Kriegshandlungen nicht außer Acht gelassen werden darf, eine große Rolle.

Bitte erklären Sie das näher.

Ein Szenario, um die Gewalteskalation in Butscha und anderen Orten erklären zu können, wäre dieses: Russische Truppen haben einen Ort eingenommen, dabei kam es zu Widerstand und eigenen Verlusten. Dazu treten andere Faktoren, die Versorgungslage ist schlecht, die Kommunikation mangelhaft. Zugleich kommt es in solchen Situationen immer wieder zu Machtmissbrauch gegenüber Zivilisten, und Gewalt wird als Mittel der Ordnung gesehen, so abscheulich und verbrecherisch die Ergebnisse auch sind.

Nun stellt sich die Frage, warum niemand innerhalb der russischen Streitkräfte diese Verbrechen verhindert oder gestoppt hat. Es gibt noch ein weiteres strukturelles Element, das von Bedeutung ist: Innerhalb der russischen Armee herrscht eine ganz andere Gewaltkultur als in westlichen Armeen wie etwa der Bundeswehr. Das sehen wir auch am dauerhaften Beschuss ziviler Strukturen.

Nun würden Kritiker einwenden, dass zum Beispiel im Irak ebenso Kriegsverbrechen von US-Soldaten begangen worden sind.

Zwischen den US-Streitkräften und der Armee Russlands besteht ein großer Unterschied. Wenn amerikanische Soldaten Verbrechen begehen, ermitteln juristische Instanzen und bringen die Täter zur Anklage. Es wird auch keine bewusste Entgrenzung der Gewalt gefordert, ermutigt oder toleriert. In Russland ist das anders. Auch vonseiten ukrainischer Soldaten soll es laut einem OSZE-Bericht in einigen Fällen zu Kriegsverbrechen gekommen sein, obwohl sie in Art und Umfang als viel geringer eingeschätzt wurden.

Zudem gehen ukrainische Stellen dem nach. Die russische Gewaltkultur und die situative Gewalteskalation spielen bei den Kriegsverbrechen daher eine große Rolle. Mit Begriffen wie Genozid oder Vernichtungskrieg ist man als Historiker immer zurückhaltender, aber zugleich müssen wir die Einschätzung des ukrainischen und auch des US-Präsidenten, wonach die Zahl und die Art der Kriegsverbrechen neue Ausmaße annähmen, sehr, sehr ernst nehmen.

Nun ist die russische Kriegsführung insgesamt für ihre Brutalität berüchtigt, nicht erst seit dem Angriff auf die Ukraine. Ist Terror gegen die Zivilbevölkerung beabsichtigt?

Eindeutige Belege für eine strategisch konzipierte Terrorkampagne gegen die ukrainische Zivilbevölkerung gibt es – trotz der vielen Kriegsverbrechen – bislang nicht. Zu Beginn wurden Proteste ukrainischer Zivilisten noch hingenommen. Das beginnt sich allerdings immer mehr zu ändern. Es gibt auch viele Berichte über Vergewaltigungen. Da sexuelle Gewalt als Mittel der Kriegsführung in der Berichterstattung oftmals kaum eine Rolle gespielt hat, ist es ein großer Fortschritt, dass diese Art der Gewalteskalation nun stärker thematisiert wird.

Die Ukrainer haben sich erfolgreicher als erwartet gegen den ersten russischen Angriff gewehrt. Nun steht eine neue russische Offensive im Osten und Süden des Landes bevor. Wird die Ukraine standhalten können?

Der Kreml scheint zu versuchen, die Ukraine in einem Material- und Abnutzungskrieg zu erdrücken. Ob diese Strategie erfolgreich sein kann, wird sich zeigen. Schon jetzt werden einzelne russische Kolonnen von den Ukrainern erfolgreich angegriffen. Viel hängt davon ab, wie die ukrainische Armee insgesamt vorgehen wird. Lässt sie die Russen tief in den Raum vorrücken, um sie wieder in Hinterhalten anzugreifen und vor Versorgungsprobleme zu stellen oder versucht man, das Gebiet starrer zu verteidigen?

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So oder so braucht die Ukraine keine klugen Ratschläge von Historikern, sondern alles was schießt und blitzt, um nicht einer russischen Übermacht zu unterliegen oder im Osten des Landes weite Teile der eigenen Armee abgeschnitten zu sehen.

In dieser Situation befinden sich bereits die ukrainischen Verteidiger der umkämpften Stadt Mariupol im Süden des Landes. Sie haben sich in einem alten Industriekomplex, vor allem einem Stahlwerk, verschanzt.

Es sieht so aus, als würden die Kämpfe in Mariupol allmählich enden. Was auch kein Wunder ist: Die Verteidiger sind seit langer Zeit vom Nachschub abgeschnitten. Man muss hoffen, dass bei einer möglichen Kapitulation die ukrainischen Soldaten anständig behandelt werden. Da habe ich große Sorgen.

Manche Beobachter ziehen Vergleiche zu den Kämpfen 1942 um die Fabrik Roter Oktober während der Schlacht von Stalingrad im Zweiten Weltkrieg.

Das Stahlwerk, wie solche Komplexe insgesamt, sind dafür geeignet, weil es eine Struktur ist, die sich gut verteidigen lässt. Derartigen Kämpfen wird aber auch oft eine hohe Symbolkraft beigemessen. Mariupol war schon vor Beginn des jetzigen Krieges ein Sinnbild des Widerstandes. Denn die Stadt fiel 2014 nicht an die russlandtreuen Separatisten aus Donezk und Luhansk. Auch aus diesem Grund werden die regulären ukrainischen Verbände und das paramilitärische Asow-Regiment kämpfen, solange es geht.

Also kämpfen die Verteidiger von Mariupol auch deswegen so ausdauernd, um dem Rest des Landes als Vorbild zu dienen?

Selbstverständlich. Ihr Beispiel dient anderen Verteidigern zur Inspiration. Der verzweifelte Kampf um Mariupol zeigt aber auch, wie wichtig weitere Hilfslieferungen durch westliche Staaten sind. Diese müssen schnell und umfassend erfolgen, ohne dass man direkte Kriegspartei wird. Denn: je mehr militärische Mittel man der Ukraine gibt, desto besser können sie sich verteidigen und russische Kriegsverbrechen verhindern.

Herr Scianna, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Bastian Matteo Scianna via Telefon
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