Lesermeinungen zum Ukraine-Krieg "Ich fühlte mich wie gelähmt"
Sechs Wochen Ukraine-Krieg: Das geht auch an den t-online-Stammlesern nicht spurlos vorbei. Der Austausch zwischen der Chefredaktion und dem Leserbeirat zeigt: Die Betroffenheit ist groß.
Der Krieg in der Ukraine erschüttert die Welt. Täglich erreichen uns bedrückende Nachrichten, viele Menschen ertragen sie kaum noch. t-online berichtet, ordnet ein und kommentiert die Geschehnisse für Sie. Wir erhalten viele Zuschriften von unserer Leserschaft, die zeigen: Der Krieg treibt die Leute um. Eine Konferenz mit Mitgliedern des t-online-Leserbeirats bestätigte das.
Chefredakteur Florian Harms und Lesermanager Mario Thieme trafen sich virtuell mit sieben Mitgliedern des Leserbeirats, um Gefühle und Gedanken zum Thema auszutauschen.
"Das war eine ganz besondere Situation"
Florian Harms schickt voraus, dass er für den 24. Februar, also den Tag des Kriegsanbruchs, eigentlich eine andere Episode seiner täglichen Kolumne geplant hatte: "Das war eine ganz besondere Situation, denn ich hatte den 'Tagesanbruch' am Abend schon fertig geschrieben. Dann klingelte mich mein Stellvertreter Florian Wichert morgens früh aus dem Bett und sagte: 'Du, es geht los, die Russen marschieren in der Ukraine ein.' Also musste ich den 'Tagesanbruch' neu schreiben." Noch mit Schlaf in den Augen schrieb er in einer halben Stunde einen kommentierten Überblick über die ersten Stunden des Krieges.
"Man hatte gehofft, dass es noch mal gut gehen könnte"
Leserbeiratsmitglied Dorothee Schwarze gibt zu: "Irgendwie hatte man ja gehofft, dass es noch mal gut gehen könnte." Denn sie erinnerte sich an Prognosen, die russischen Truppen würden an einem vorherigen Tag einmarschieren, die sich zunächst nicht bewahrheiteten. "Als es dann doch so weit war, weiß ich noch, dass ich mich gelähmt fühlte", schildert sie.
"Noch heute bin ich total durcheinander"
"In mir hatten sich der Glaube und die Hoffnung festgesetzt, dass wir in Mitteleuropa nie mehr wieder Krieg erleben müssen", sagt Leserbeiratsmitglied Günter Jurreit, wobei ihm die übrigen Teilnehmer der Videokonferenz zustimmten.
Leserbeiratsmitglied Magdalena Ursinus betont, dass die heute lebenden Generationen keinen Bezug zu einem Krieg haben. "Das ist alles nur in der Theorie passiert, aus den Erzählungen von unseren Eltern oder Großeltern", sagt die 66-Jährige. "Die Tatsache, dass etwas nun so nah, praktisch um die Ecke, passiert, hat mich total aufgewühlt. Noch heute bin ich total durcheinander."
"Das war für mich unvorstellbar"
Leserbeiratsmitglied Tom Zinram war zwar über die vorherigen Entwicklungen informiert, doch einen tatsächlichen Angriff Russlands hatte er nicht erwartet. Umso überraschter war er, als dieser dann plötzlich bittere Realität wurde. "Als Breaking-News-Lage war, dass Putin einmarschiert ist, konnte ich das gar nicht richtig greifen." Für ihn war das Thema Krieg gedanklich so weit weg wie für Magdalena Ursinus. "Wir hatten Kriege zwar im Geschichtsunterricht ausführlich behandelt, aber als es nun hieß, 800 Kilometer von hier entfernt bricht der Krieg aus, war das für mich unvorstellbar."
"Hätte nie gedacht, dass es so weit bei mir gehen kann"
Ebenso wie Leserbeiratsmitglied Katja schafft sich Tom Zinram Inseln, auf denen er sich der erschütternden Berichterstattung nicht aussetzt. "Ich informiere mich nur noch morgens und abends zu festen Uhrzeiten, um nicht ständig in dieser emotionalen Spirale der Berichterstattung zu landen." In den ersten Wochen kam der 23-jährige Student mit der Nachrichtenlage noch klar, doch nach Woche vier bis fünf begann die Situation mehr an seinen Nerven zu zerren; er träumte sogar schlecht davon. "Das hätte ich nie gedacht, dass es so weit bei mir gehen kann", gibt er zu.
"Man muss einfach nur funktionieren"
Ein Großteil der Videokonferenzteilnehmer stellt fest, dass der Ukraine-Krieg ihnen näher geht als andere Konflikte, auch Leserbeiratsmitglied Thomas Eigner: "Ich muss mit mir selbst klären: Warum macht mich das mehr verrückt als die ganzen Geschehnisse, die es in Syrien und Afghanistan gab?"
Ihn beschäftigt auch: "Man geht auf die Arbeit, sitzt an seinem Rechner und ist gefangen in einer Art Gedankendiaspora, erfüllt aber trotzdem seine Arbeit. Es wird nicht thematisiert, man muss einfach nur funktionieren. Man weiß, man muss für sein Geld Leistung bringen." Er nennt das Beispiel eines Chirurgen, der eine Transplantation durchführen muss. "Dem kann ja nicht die Ukraine durch den Kopf gehen. Es geht ja um das Leben des Menschen, den er auf dem OP-Tisch liegen hat."
"Nehme große Verantwortung der Entscheidungsträger wahr"
Florian Harms erzählt, dass der Ukraine-Krieg ihn sowie die übrigen t-online-Redakteure, die sich tagtäglich mit grauenvollen Bildern und Videos auseinandersetzen müssen, natürlich nicht kaltlässt. Er berichtet den Leserbeiratsmitgliedern von dem psychologischen Betreuungsangebot, das in der Redaktion angeboten und nachgefragt wird.
Die Krisenpolitik der Bundesregierung bewertet Harms überwiegend positiv: "Ich nehme inzwischen eine große Verantwortung bei vielen der Entscheidungsträger wahr. Sie nehmen ihre Aufgabe sehr ernst und wägen sorgsam ab, was man tun kann, um das Regime in Moskau zu bestrafen, ohne dabei großen Schaden hierzulande anzurichten. Es ist immer eine Gratwanderung, natürlich werden dabei auch mal Fehler gemacht. Die Regierenden sind sich aber bewusst, wie groß ihre Verantwortung ist."
- Videokonferenz mit Leserbeiratsmitgliedern