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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Expertin von Amnesty "Die Getöteten standen in einer Schlange für Essen an"
Getötete Kinder, vergewaltigte Frauen, verbotene Waffen: Die Liste mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg ist lang. Amnesty International arbeitet an ihrer Verifizierung. Welche Taten lassen sich bereits belegen – auf ukrainischer wie russischer Seite?
Russland führt einen Angriffskrieg in der Ukraine und bricht dabei, so der Vorwurf, immer wieder die Regeln, die im Krieg gelten. Zivilisten sollen gezielt unter Beschuss genommen, Frauen von Soldaten vergewaltigt und verschleppt, verbotene Waffen eingesetzt werden.
Amnesty International ist für die Dokumentation von Kriegsverbrechen zuständig. Mit einem internationalen und einem nationalen Team in der Ukraine sichtet die Menschenrechtsorganisation Videos aus den Kriegsgebieten und befragt Augenzeugen.
Welche Kriegsverbrechen lassen sich bereits sicher belegen – und welche Folgen kann das haben? Ein Gespräch mit Janine Uhlmannsiek, Referentin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland.
t-online: Es machen Videos die Runde, in denen mutmaßlich ukrainische Soldaten Kriegsverbrechen begehen. Eines soll zeigen, wie russischen Kriegsgefangenen in die Beine geschossen wird. Viele andere Videos zeigen, wie Menschen an Laternenmasten gefesselt und geschlagen werden. Hat Amnesty Belege für ukrainische Kriegsverbrechen?
Janine Uhlmannsiek: Wir haben zu diesen Vorwürfen keine eigenen Erkenntnisse. Wir prüfen die Einhaltung des Völkerrechts auf beiden Seiten. Mit Blick auf die ukrainische Seite haben wir kritisiert, dass russische Kriegsgefangene von den ukrainischen Behörden zu Pressekonferenzen gebracht wurden, um über die Militärinvasion zu sprechen. Das verurteilen wir – eine solche Zurschaustellung kann für die Kriegsgefangenen bei einer Rückkehr nach Russland schwere Folgen haben und ihre Familien in Gefahr bringen.
Amnesty hat Kriegsverbrechen russischer Truppen in der Ukraine klar angeprangert. Was genau lässt sich belegen?
Amnesty hat wahllose Angriffe des russischen Militärs auf zivile Infrastruktur dokumentiert – unter anderem auf Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten und Wohnviertel. Dabei sind zahlreiche Zivilpersonen, auch Kinder, ums Leben gekommen. Im Nordosten der Ukraine haben wir einen Angriff mit Streumunition auf eine Schule dokumentiert, in der Menschen Schutz suchten. Mindestens drei Personen, darunter ein Kind, wurden getötet. Schon der Einsatz von Streumunition ist völkerrechtlich verboten. Sie sollte aufgrund ihrer großflächigen, wahllosen Wirkung überhaupt nicht eingesetzt werden – schon gar nicht in der Nähe einer Schule.
Setzt Russland noch mehr Waffen ein, die verboten sind?
Wir sehen gehäuft den Einsatz von unterschiedslos wirkenden Waffen in dicht besiedelten Wohngebieten. Das ist ein Kriegsverbrechen. Zum Beispiel gab es einen russischen Angriff in Tschernihiw, bei dem mindestens acht Fliegerbomben auf einen kleinen Platz abgefeuert wurden. Berichten zufolge sollen dabei 47 Zivilpersonen getötet worden sein. Basierend auf Satellitenbildern und Aussagen von Zeugen und Zeuginnen gehen wir davon aus, dass die Getöteten gerade in einer Schlange für Essen anstanden.
Die Ukraine wirft Russland auch vor, dass es gezielt humanitäre Korridore – also eigentlich vereinbarte sichere Fluchtrouten für Zivilisten aus Kampfgebieten – bombardiert.
Wir haben mit Personen gesprochen, die in Fluchtkorridoren unter Beschuss des russischen Militärs geraten sind. Augenzeugen zufolge sind hier Zivilpersonen gestorben. Das darf in keinem Fall passieren. Humanitäre Korridore müssen sicher und zuverlässig gewährleistet werden. Die Menschen in der Ukraine haben zu Recht Sorge, sie zu benutzen. Wir kennen dieses Vorgehen leider aus der Geschichte des russischen Militärs: Das Sterben und das Leid der Zivilbevölkerung wird bewusst in Kauf genommen. So sind russische Truppen auch in Syrien, bereits seit 2014 in der Ostukraine und sogar in Tschetschenien, also im eigenen Land, vorgegangen.
Eine Gefahr, die es in dieser Form noch nie gab: Sehr früh sind mit Tschernobyl und Saporischschja ukrainische Atomkraftwerke von russischen Truppen eingenommen worden. Dabei sind in direkter Nähe von Reaktoren Raketen eingeschlagen. Experten warnen: Die Lage bleibt instabil.
Nach dem humanitären Völkerrecht müssen Atomkraftwerke besonders geschützt werden. Selbst wenn sie für militärische Zwecke genutzt werden, dürfen sie nur unter eng gefassten Voraussetzungen angegriffen werden. Die Konfliktparteien sind außerdem verpflichtet, die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu schützen und schwere Umweltschäden zu verhindern.
Gibt es Belege für Vergewaltigungen und gewaltsame Verschleppungen von Frauen und Kindern durch russische Soldaten, die ukrainische Offizielle in unterschiedlichen Orten beklagen?
Bislang haben wir keine eigenen Erkenntnisse dazu. Klar ist, dass der Krieg das Risiko geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt enorm erhöht. Aus anderen Konfliktregionen wissen wir, dass Vergewaltigungen im Krieg als Waffe eingesetzt werden. So wird ganz gezielt gegen Frauen im Krieg vorgegangen.
Was bedeutet das genau: "Vergewaltigung als Waffe"? Welchen Sinn hat diese Taktik?
Vergewaltigung im Krieg ist explizit als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit benannt. Das zeigt, dass diese grausamen Taten eine strukturelle Ebene haben, die wir leider immer wieder in bewaffneten Konflikten sehen.
Die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen sind in der Ukraine auch insofern in Gefahr, als Krankenhäuser und Geburtshäuser bombardiert wurden. Dabei wurden Frauen und Kinder getötet und schwer verletzt, auch Schwangere und Neugeborene. Durch die schlechte Versorgungslage befürchten wir, dass die Mütter- und Kindersterblichkeit steigen wird.
Gibt es Aussicht darauf, dass diese Kriegsverbrechen je geahndet werden?
Der Internationale Strafgerichtshof hat Ermittlungen aufgenommen, ebenso der Generalbundesanwalt. Er agiert nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit. So sollen konkret jene, die in führenden Positionen sitzen, für Taten der Armee zur Verantwortung gezogen werden.
Die russische Armee ist ganz ähnlich bereits in vorherigen Kriegen vorgegangen. Wurden denn dort jemals Prozesse geführt, Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen?
In keiner Weise wurden die Verbrechen im Syrienkrieg umfassend aufgeklärt. Dieses Versäumnis hat jetzt bittere Folgen: Verantwortliche glauben, dass sie einfach weitermachen können mit Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Deswegen ist es nun umso wichtiger, dass die internationale Gemeinschaft alles tut, damit diese Verbrechen nicht ungestraft bleiben. Wir hoffen, dass wir mit unserer Arbeit zu den Ermittlungen beitragen.
Die Nachrichtenlage ist extrem unübersichtlich, beide Seiten arbeiten mit Propaganda. Videos und Fotos fluten die sozialen Medien. Wie geht Amnesty genau vor, um Meldungen von Kriegsverbrechen gerichtsfest zu verifizieren?
Wir haben ein Team in der Ukraine, das mit Betroffenen spricht und Kontakte vermittelt. Außerdem arbeitet unser "Crisis Evidence Lab" daran, Fotos und Videos aus dem Kriegsgebiet mithilfe digitaler Ermittlungsinstrumente zu überprüfen. Das sind Experten und Expertinnen für IT, die zum Beispiel Satellitenbilder auswerten. Sie checken diese Fotos und Videos sehr genau, schauen auf Zeitstempel, Umgebung, Sprache, Wetterberichte, um zu fragen: Kann stimmen, was wir hier sehen?
Russland wie die Ukraine werfen sich die Verbreitung von gefakten Videos und Falschmeldungen vor. Wie viel Prozent des von Amnesty überprüften Materials ist Fake – zum Beispiel Material aus anderen Kriegen?
Genau lässt sich das nicht beziffern. Klar ist aber, dass dieser Krieg in hohem Maße von Desinformation und gefälschten Videos gekennzeichnet ist. Umso wichtiger ist es, dass unabhängige Organisationen wie Amnesty International Bilder und Berichte von Gräueltaten auf ihre Echtheit prüfen und durch Abgleich mit anderen Quellen verifizieren. So können wir verlässliche Aussagen über Kriegsverbrechen treffen.
- Gespräch mit Janine Uhlmannsiek, Amnesty