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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wahl in Ungarn Kann dieser Mann Viktor Orbán schlagen?
Seit Jahren regiert Viktor Orbán unangefochten. Doch bei der Wahl an diesem Sonntag könnte es knapp werden. Der Grund: ein erzkatholischer Kleinstadtbürgermeister, der nicht nur Ungarn verändern könnte.
Peter Márki-Zay wählt harte Worte, wenn er über seinen Kontrahenten spricht: Viktor Orbán sei ein Dieb, ein Gauner, ein Söldner Russlands. Ungarn sei unter Orbán freiwillig auf die schlechte Seite der Geschichte zurückkehrt. Nun aber sei es an der Zeit, ihn abzuwählen, damit "wir, egal wo auf der Welt, wieder stolz sagen können: 'Ich bin Ungar'".
Es ist Wahlkampfendspurt in Ungarn und zum ersten Mal seit Jahren hat die Opposition eine Chance zu gewinnen. Statt eines Gegeneinanders haben sich die Parteien gegen den amtierenden Ministerpräsidenten Orbán verschworen, ihre Kräfte gebündelt und einen gemeinsamen Kandidaten ernannt: den Kleinstadtbürgermeister Márki-Zay.
Dazu hat sich ein ungewöhnliches Bündnis zusammengetan: Mit dabei ist etwa die frühere Regierungspartei MSZP, die 2010 krachend abgewählt wurde und seitdem kaum noch einen Fuß auf den Boden bekommt. Dazu kommen zwei grüne und liberale Parteien sowie die Jobbik-Partei, die früher ein rechtsextremes Programm hatte, sich aber mittlerweile als christlich-soziale Volkspartei inszeniert und mit EU-Flaggen posiert. Gemeinsam ließ das Bündnis die Bürger über ihren Spitzenkandidaten abstimmen – und die entschieden sich ausgerechnet für Márki-Zay.
Es ist das Prinzip: Alle gegen einen
Nicht nur für die Opposition, auch für die Regierungspartei Fidesz kam seine Wahl überraschend. Die anderen Kandidaten hätte Orbán im Handumdrehen als liberale Spinner abtun können. Márki-Zay nicht. Er ist ein konservativer Politiker mit sieben Kindern, erzkatholisch und jemand, der auch in der Provinz gut ankommt. "Orbán war noch in der kommunistischen Jugend, als ich schon jeden Sonntag zur Kirche gegangen bin", zitierte ihn der britische "Guardian". Doch hat er gegen den ungarischen Ministerpräsidenten eine Chance?
Schaut man auf die Umfragen, lässt sich diese Frage mit einem "Jein" beantworten. Einige sehen die vereinte Opposition (EM) nur zwei Prozentpunkte hinter Fidesz und dem Bündnispartner KDNP, andere bis zu zehn. Ein Großteil der Sitze im Parlament wird allerdings über Direktmandate vergeben. Davon profitiert vor allem Fidesz, auch weil die Regierung die Wahlkreise nach und nach auf die Partei zugeschnitten hat.
Bei der Wahl 2018 etwa holte die Partei knapp unter 50 Prozent – erhielt aber im Parlament eine Zweidrittelmehrheit. Die Opposition hofft nun, durch die Bündelung ihrer Kräfte verhindern zu können, dass Fidesz bei den Direktmandaten wieder so abräumt. Es ist das Prinzip: Alle gegen einen.
Bei den Wahlkampfauftritten läuft Patti Smith
Márki-Zays Aufstieg ist rasant, 2018 trat er erstmals auf der politischen Bühne auf. In den Jahren zuvor arbeitete der heute 49-Jährige für eine Elektrizitätsgesellschaft, als Dozent an einer Universität und verbrachte einige Jahre in Kanada und den USA.
Dann kandidierte er für das Bürgermeisteramt seiner Heimatstadt Hódmezővásárhely, eine kleine Provinzstadt im Süden des Landes, weit weg von der Hauptstadt Budapest. Sie gilt eigentlich als Fidesz-Hochburg, doch er setzte sich gegen den Amtsinhaber durch. Schon damals profitierte Márki-Zay vom Frust der Opposition: Keine andere Partei stellte einen eigenen Kandidaten auf, um gegen Fidesz anzutreten. Aber Márki-Zay weiß, dass eine Wahl gegen Orbán nur so zu gewinnen ist. "Fidesz oder kein Fidesz, das ist die einzige Frage", sagt er bei einem Wahlkampfauftritt Anfang des Jahres.
Dafür bekommt er ungewöhnliche Unterstützung. Das amerikanische Punkrock-Urgestein Patti Smith schickte ihm – dem erzkatholischen Kleinstadtbürgermeister – eine Videobotschaft, in der sie alle Ungarn grüßt, die eine "demokratische Wiedergeburt" in ihrem Land wollen. Sie stellte der vereinten Opposition auch ihr berühmtes Lied "People have the power" (Das Volk hat die Macht) zur Verfügung. Seitdem läuft es in einer ungarischen Version bei den Wahlkampfveranstaltungen rauf und runter.
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Viele offene Fragen
Die bunt zusammengestellte Oppositionsfront bringt allerdings auch Nachteile. Allem voran: Niemand weiß genau, wie eine Regierung unter Márki-Zay aussehen würde. Die sechs Parteien waren noch bis vor Kurzem erbitterte Gegner. Daraus ergeben sich offene Fragen: Können sie sich zum Regieren zusammenreißen? Und wofür genau steht die vereinte Opposition eigentlich, außer dafür, gegen Orbán zu sein?
Márki-Zay hat vor allem zwei Schwerpunkte: Da sind zum einen die Beziehungen zur EU. Er ist dezidiert pro-europäisch, will die Beziehungen mit neuem Leben füllen. Aus diesem Grund schaut auch Europa ganz genau auf diese Wahl: Seit Jahren liegt die EU mit Orbán im Streit, weil dieser die Demokratie immer weiter aushöhlt. Márki-Zay betont in Interviews hingegen immer wieder die Notwendigkeit, die Rechtsstaatlichkeit und die Pressefreiheit wiederherzustellen.
"Werden keine Verräter sein"
Auch das umstrittene LGBTQ-Gesetz, mit dem Ungarn vergangenes Jahr Homosexualität kriminalisierte, will er wieder abschaffen. Bei seinem Besuch bei EU-Vertretern im November sagte Márki-Zay: "Wir werden treue Mitglieder der EU und der Nato sein, keine Verräter."
Das andere große Thema für Márki-Zay ist die Korruption – die verärgert viele Wähler in Ungarn. In Interviews spricht er von einer "völlig illegitimen Macht", die das Land regiere, von einem autoritären Regime, das auf Hasspropaganda aufgebaut sei. Ungarn müsse nun wieder ein freies Land werden, sagt er, die "Diebe" müssten verjagt werden.
Orbán hat das im Wahlkampf sichtlich unter Druck gesetzt. Ein Wahlgeschenk nach dem anderen hat der amtierende Ministerpräsident seinen Wählern versprochen, für Familien, Rentner, Steuernachlässe für Unternehmen und Extra-Boni für Arbeitnehmer.
Krieg in der Ukraine verändert Wahlkampf
Seit Russlands Angriff auf die Ukraine hat sich allerdings auch der Wahlkampf verändert. Während zu Beginn vor allem die Themen Lebenskosten, das Gesundheitssystem und die Korruption dominierten, werden sie nun vom Ukraine-Krieg überschattet.
Das Thema hat Spaltungspotenzial. Die Position Orbáns gegenüber Russland ist in Europa heftig umstritten, die Nachbarländer Tschechien, Polen und Slowakei – mit welchen Ungarn sonst eine enge Beziehung verband – gehen auf Distanz. Ihr Vorwurf: Orbán distanziere sich nicht ausreichend vom russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der polnische Präsident Andrzej Duda forderte bereits Konsequenzen für Ungarn. Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, nutzte seine Rede vor dem EU-Gipfel im März, um Orbán direkt zum Handeln aufzufordern.
"Putin oder Europa?"
Die Opposition versucht, das zu nutzen – allerdings mit zweifelhaftem Erfolg. Zu "Fidesz oder kein Fidesz" ist mittlerweile eine zweite Frage gekommen. Und sie steht auf den Wahlplakaten: "Putin oder Europa?"
Auch bei diesem Thema geht der Oppositionskandidat Márki-Zay in die Vollen: Orbán habe die Nato und die EU verraten, Zugeständnisse an Putin gemacht und die nationale Sicherheit vernachlässigt, weil er keine zusätzlichen Nato-Truppen im Land haben wolle. "Glaubt ihm nicht, dass er Ungarn verteidigen kann. Er hat genau getan, was Putin ihm gesagt hat", sagte Márki-Zay bei einer Wahlkampfveranstaltung laut der Luxemburger Zeitung "Tageblatt".
Nun tendieren Wähler in unsicheren Zeiten allerdings oft dazu, sich auf das Bekannte zu besinnen. Das scheint auch in Ungarn der Fall zu sein. Seit Kriegsbeginn sind Orbáns Beliebtheitswerte kräftig nach oben geklettert, Márki-Zays nach unten – nun trennen sie fast mehr als 30 Prozentpunkte.
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Angst vor dem Krieg
Während Orbán von seinen europäischen Kollegen für mangelnde Distanz zu Russland kritisiert wird, ist es im Land selbst die Angst vor dem Krieg, die viele Wähler zu Orbán zieht. Ungarn müsse aufpassen, nicht in den Krieg hineingezogen zu werden, warnte Orbán in seiner Wahlkampfrede zum Nationalfeiertag am 15. März in Budapest. Denn für die Großmächte – ob USA, EU oder Russland – sei Ungarn nur eine "Figur auf dem Schachbrett", die geopfert werden könne.
Die Opposition beschimpft er hingegen als Kriegstreiber, die ungarische Soldaten in die Ukraine schicken wolle. Diese Erzählung wird auch von den vielen regierungsnahen Medien verbreitet. Glaubt man den Beliebtheitswerten, verfängt das bei den Wählern. Márki-Zay gibt sich davon unbeeindruckt. Bei einer Wahlkampfrede sagte er Mitte März: "Ich habe noch niemals zuvor eine Umfrage gewonnen, aber auch noch nie eine Wahl verloren."
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- Umfragen der Institute Századvég, Idea, Medián, Republikon, The Center
- Tageblatt: Ungarns Schicksalswahl im Schatten des Krieges
- Euronews: Video-Interview mit Márki-Zay (auf Deutsch übersetzt)
- Guardian: "Hungary election: outsider from the right backed by left to beat Viktor Orbán"