Angriff auf Ukraine Was will Putin mit seinem Krieg erreichen?
Russland will in der Ukraine angeblich Menschen schützen, die einem "Genozid ausgesetzt sind". Doch Experten glauben: Der russische Präsident hat Angst vor dem Westen und will ihn "terrorisieren".
"Ich habe die Entscheidung für eine Militäroperation getroffen", begann der russische Präsident Wladimir Putin seine Fernsehansprache in der Nacht zum Donnerstag. Er forderte das ukrainische Militär auf, "die Waffen niederzulegen", und drohte für jegliche Einmischung in den russischen Einsatz Vergeltung an.
Doch was genau hat der Kremlchef vor und warum?
"Ziel ist der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind", behauptete Putin in seiner Rede. "Dafür werden wir die Entmilitarisierung und die Entnazifizierung der Ukraine anstreben." Zuvor hatte Putin die Unabhängigkeit der Separatistenregionen in der Ostukraine anerkannt und eine Entsendung russischer Soldaten angeordnet.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj hatte noch kurz vor dem Angriff in einer Ansprache für eine friedliche Lösung an Russland appelliert. Vorwürfe Moskaus, dass Kiew einen Angriff auf die Separatistengebiete in der Ostukraine vorbereite, wies er zurück.
"Was soll ich bombardieren? Donezk, wo ich Dutzende Male war?", fragte Selenskyj. Die reale Ukraine unterscheide sich komplett von dem in den russischen Nachrichten dargestellten Land. "Ich weiß, dass meine Rede nicht im russischen Fernsehen ausgestrahlt werden wird, aber das russische Volk muss das sehen. Sie müssen die Wahrheit erfahren. Und die Wahrheit ist, dass es aufhören muss, bevor es zu spät ist.", sagte er weiter.
Während der Westen Putin vorwirft, gegen das Völkerrecht zu verstoßen, ist der Mann im Kreml Experten zufolge von zwei Hauptfaktoren motiviert: der Glaube an die russische Vormachtstellung und die Angst vor einem zunehmenden westlichen Einfluss vor seiner Haustür. "Der Untergang der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts", hatte Putin 2005 gesagt. Der Zerfall der einst mächtigen UdSSR in 15 unabhängige Staaten ließ den ehemaligen KGB-Agenten persönlich mittellos zurück.
"Geografische Ausdehnung der Sowjetunion wiederbeleben"
"Niemand sollte daran zweifeln, dass Putin den Ruhm und die geografische Ausdehnung der Sowjetunion wiederbeleben will", sagte die Außenpolitikexpertin Olga Lautman dem Nachrichtensender ABC. Die Ukraine sei schon immer der Schlüssel zu Putins Traum von einer modernen russischen Supermacht gewesen. Das Land mit über 40 Millionen Einwohnern beheimatet die weltweit größte russischstämmige Bevölkerung außerhalb Russlands.
Im vergangenen Jahr hatte Putin ein Essay geschrieben, in dem er behauptete, die Ukraine sei "ein reines Produkt der Sowjetära" und die Russen und Ukrainer seien "ein Volk". Auf den Sturz einer gewählten prorussischen Regierung in Kiew 2014 hatte Russland mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim reagiert. Zudem unterstützt es prorussische Separatisten im Osten des Landes, gegen die Kiew seit 2014 militärisch vorgeht.
Die Ukraine selbst ist seit 1992 Nato-Partner, dem Land wurde auf einem Gipfeltreffen in 2008 eine mögliche Mitgliedschaft zugesagt. Der Kreml will unter keinen Umständen, dass der enge Nachbar ein Mitglied des westlichen Bündnisses wird.
Der Direktor für Strategie, Technologie und Rüstungskontrolle beim Londoner Thinktank "International Institute for Strategic Studies", William Alberque, erklärte im Interview mit dem "Spiegel", es handle sich nicht um einen "Nato vs. Russland"-Konflikt. Es sei eher ein "Russland vs. die Welt"-Konflikt.
"Es geht hier darum, dass Russland eine andere Weltordnung fordert", so Alberque. "Ich glaube nicht, dass Wladimir Putin hier aufhören wird. Wenn seine Absicht gewesen wäre, die besetzten Regionen anzuerkennen um dort sogenannte Friedenstruppen hinzuschicken, hätte er keine Truppen nach Belarus oder sechs Kriegsschiffe ins Schwarze Meer beordert." Dieser Aufbau sei offensichtlich dafür da, den Westen zu terrorisieren.
Was hat Russland in der Ukraine vor?
Das russische Verteidigungsministerium erklärte laut russischen Staatsmedien, dass das russische Militär im Rahmen einer laufenden Operation ukrainische Militäreinrichtungen angreife. Bislang hieß es, die Militäroperation sei für den Donbass genehmigt. Demnach setze Moskau Präzisionswaffen gegen militärische Infrastruktur, Luftverteidigungsanlagen, Militärflugplätze und Flugzeuge ein. Es greife aber keine ukrainischen Städte an, die Zivilbevölkerung sei nicht bedroht, hieß es.
Das ukrainische Innenministerium bestätigte Raketenangriffe auf die Militäradministration, militärisch genutzte Flugplätze und Depots in Kiew, Charkow und Dnipro. Zudem gebe es Gefechte in verschiedenen Grenzregionen. Der russische Militäreinsatz habe die "Zerstörung des ukrainischen Staates" zum Ziel.
Besorgnis herrscht nun darüber, dass Russland trotz der Beteuerungen die Hauptstadt Kiew einnehmen könnte. Nach der Ankündigung einer russischen Militäroperation in der Ostukraine haben sich im Internet schnell viele nicht verifizierbare Berichte über Kriegshandlungen auch außerhalb der Separatistengebiete verbreitet. Vor allem belarussische Propaganda-Kanäle auf Telegram veröffentlichten in der Nacht zum Donnerstag Fotos und Videos und schrieben unter anderem von angeblichen Raketenangriffen auf Kiew und Charkow. Diese Informationen waren zunächst nicht überprüfbar.
Eine weitere Phase könnte laut Alberque sein, die Verbindung Russlands zur Krim entlang des Schwarzen Meers zu erreichen oder eine Landverbindung der Krim über Odessa bis nach Transnistrien zu schaffen.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen afp und dpa
- ABC News: With Russia launching a military operation in Ukraine's Donbas region, what does Vladimir Putin want?
- Spiegel: "Es geht hier darum, dass Russland eine andere Weltordnung fordert" (Bezahlschranke)