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Türkei | Corona-Krise zerstört Tourismus: Erdoğan bleibt nur ein Mittel


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Corona-Krise zerstört Tourismus
Im Wettlauf gegen die Zeit bleibt Erdoğans Türkei nur ein Mittel


27.04.2021Lesedauer: 5 Min.
Abenddämmerung in Istanbul: Mit einem radikalen Lockdown will die Türkei die Tourismussaison noch retten.Vergrößern des Bildes
Abenddämmerung in Istanbul: Mit einem radikalen Lockdown will die Türkei die Tourismussaison noch retten. (Quelle: Emrah Gurel/ap)

Die Corona-Inzidenz in der Türkei sinkt – aber schnell genug? Kurz vor der Sommersaison geht das Land in den härtesten Lockdown seit Beginn der Pandemie. Er dient einem klaren Ziel.

Die Türkei schlägt im Kampf gegen die Corona-Pandemie einen harten Kurs ein. Ab Donnerstagabend dürfen die Bürgerinnen und Bürger fast drei Wochen lang nur noch aus triftigem Grund auf die Straße. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat den härtesten Lockdown seit Beginn der Krise verhängt. Ausgenommen von der Regelung ist nur eine Gruppe: Touristen.

Dass die strenge Einschränkung zwar für Einheimische, nicht aber für ausländische Urlauber gilt, zeigt, wie wichtig der Tourismus für das Land ist – und verrät viel über den Zweck des Lockdowns. Ein Wettlauf gegen die Zeit hat begonnen.

Denn mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 413 (Stand: 27. April) ist die Türkei derzeit eins der am schlimmsten von der Pandemie betroffenen Länder. Zudem befand sich die Türkei schon vor dem Ausbruch des Coronavirus in einer tiefen wirtschaftlichen Krise, einhergehend mit immenser Arbeitslosigkeit, Inflation und Armut.

So wichtig ist der Tourismus für die Türkei

Präsident Erdoğan steht nun vor einer Mammutaufgabe: Einerseits muss der Tourismus als wichtiger Wirtschaftszweig gerettet werden, andererseits müssen die Intensivstationen entlastet werden. Die radikalen Schließungen sollen beides erreichen – in kürzester Zeit. Denn die Urlaubssaison steht in den Startlöchern.

Um zu verstehen, wie heftig die Krise des Tourismus in der Türkei ist, hilft ein Blick auf die Zahlen:

► Mehr als 45 Millionen Touristen reisten im Jahr 2019 in die beliebte Urlaubsregion, allein fünf Millionen kamen aus Deutschland.

► 2020 verzeichnete das Land in den ersten zwei Monaten mehr als 3,5 Millionen Reisende. Dann brachte die Corona-Krise den fatalen Einbruch des türkischen Tourismus.

► Im Januar und Februar 2021 verbrachten gerade einmal eine Million Menschen ihren Urlaub in der Türkei, ein Verlust zum Vorjahr von mehr als 70 Prozent.

Russland, das Land, aus dem die meisten Menschen in die Türkei reisen, schränkte den Flugverkehr mindestens bis zum 1. Juni vehement ein. Die Zahl der Reisenden könnte in diesem Sommer allein dadurch um etwa 500.000 reduziert werden.

Die wirtschaftliche Krise droht zu eskalieren. Deshalb sieht Präsident Erdoğan keinen anderen Ausweg als den Komplett-Lockdown. Neben den strengen Ausgangsbeschränkungen sind Reisen zwischen Städten nur mit Ausnahmegenehmigung möglich. Sämtliche Betriebe müssen schließen. Cafés und Restaurants mussten bereits vor zwei Wochen auf Lieferdienste umstellen, Unterricht findet ausschließlich online statt.

Ramadan könnte Eindämmung der Pandemie beeinträchtigen

Die Restriktionen sind nicht ohne Grund bis zum 17. Mai festgelegt: Am 12. Mai endet der Fastenmonat Ramadan, was die Ausbreitung des Coronavirus ohne Einschränkungen und Verbote erheblich beschleunigen könnte. Zum Ende des religiösen Monats reisen viele Bürgerinnen und Bürger gewöhnlich zu ihren Familien, das Fastenbrechen wird in großen Gruppen gefeiert. All das muss nun dieses Jahr ausfallen – nicht nur, um die Urlaubssaison zu retten.

Auch die Gesundheitslage im Land ist kritisch. Noch vor knapp zwei Wochen hatte das türkische Gesundheitsministerium mit mehr als 60.000 Neuinfektionen an einem Tag einen traurigen Rekord vermeldet. Inzwischen sind die täglichen Fallzahlen auf rund 37.000 gesunken. Zum Vergleich: In Deutschland lagen die Neuinfektionen am Dienstag bei ähnlicher Einwohnerzahl bei knapp 11.000. Erdoğans Ziel, die Fälle auf 5.000 pro Tag zu reduzieren, scheint noch in weiter Ferne. Aufgrund der Virusmutanten, die ansteckender sind und sich deshalb schneller ausbreiten, erzielen die verschärften Maßnahmen von Mitte April noch nicht den gewünschten Effekt.

"Das Gesundheitspersonal ist vollkommen ausgelaugt"

Die Intensivstationen in den Metropolen Istanbul und Ankara seien Ende April komplett ausgelastet, sagte die Vorsitzende der Vereinigung der Intensivkrankenschwestern, Ebru Kiraner, der Deutschen Presse-Agentur. Es fehle außerdem weiterhin an qualifiziertem Personal. Besonders jüngere Menschen zwischen 30 und 50 Jahren lägen inzwischen auf den Intensivstationen. "Das Gesundheitspersonal ist vollkommen ausgelaugt. So geht das nicht weiter", berichtete das Vorstandsmitglied der Istanbuler Ärztekammer, Murat Ekmez, der "Neuen Zürcher Zeitung".

Auch wegen dieser Situation hat das Robert Koch-Institut das Land als Hochinzidenzgebiet eingestuft, das Auswärtige Amt warnt vor Reisen. Doch genau für die wirbt die Türkei beinahe verzweifelt. Sie fürchtet das Horrorszenario: Ohne sinkende Fallzahlen keine Urlauber, ohne Urlauber kein wirtschaftlicher Aufschwung. Normalerweise tragen Touristen rund fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt des Landes bei.

Türkei wirbt für touristische Reisen

Die Regierung erlässt Reisenden die Beschränkungen, weil sie ihnen nicht auch noch den letzten Reiz nehmen will, wie etwa am Strand den Sonnenuntergang zu bestaunen, wenn schon keine Restaurants und Bars geöffnet haben. Der türkische Tourismusminister Mehmet Nuri Ersoy betonte am Montag, dass sich Besucher trotz Beschränkungen frei bewegen können.

"Unsere meist besuchten und wichtigen Museen und archäologische Stätten bleiben geöffnet", sagte er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. "Sie sind sowohl offen als auch noch viel angenehmer. In gewisser Hinsicht ist es in der Türkei von Vorteil, Tourist zu sein", sagte Ersoy.

Präsident Erdoğan sagte am Montag, ohne strengere Maßnahmen und die Eindämmung der Infektionsraten zahlten der Tourismus, die Bildung und der Handel einen "hohen Preis". Während es in anderen Ländern Europas erste Öffnungen gebe, müsse die Türkei ihre Neuinfektionen senken, um nicht zurückzubleiben, so der türkische Präsident.

Kritik an Erdoğans Krisenmanagement

Dabei hat auch sein Krisenmanagement das Land seit Anfang März ins Verderben gestürzt. Erdoğan strebte "eine kontrollierte Normalisierung" an. Maßnahmen wurden gelockert, die Provinzen wurden in vier Risikostufen eingeteilt. Die Corona-Lage verschärfte sich jedoch drastisch.

Einige Bürger prangern die Corona-Politik der türkischen Regierung deshalb an: "Die Corona-Lage wird erst besser, wenn sich die Regierung ändert", sagte eine 26-jährige Türkin der "NZZ". Staatliche Hilfen gebe es überhaupt nicht, betont ein anderer Bürger. Zugleich halte Präsident Erdoğan Treffen seiner Partei AKP mit Zehntausenden Teilnehmern ab, die eigentlich gegen die Corona-Verordnung verstießen. Bevor der Lockdown nun verschärft wurde, hatten auch zahlreiche Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen für schärfere Maßnahmen plädiert. Der Chef der Istanbuler Apothekerkammer, Zafer Cenap Sarıalioğlu, sagte, er sehe kein Licht am Ende des Tunnels. Es stünden schwere Zeiten bevor.

Impfkampagne macht Hoffnung

Hoffnung macht einzig die türkische Impfkampagne, die seit Mitte Januar läuft: Inzwischen wurden 21 Millionen Dosen verimpft. Mehr als 8,4 Millionen Bürgerinnen und Bürger sind voll geschützt, das entspricht etwa zehn Prozent der Bevölkerung (Stand: 27. April). In Deutschland verfügen bislang 7,3 Prozent der Bürgerinnen und Bürger über den vollen Schutz. Vor allem das Vakzin des chinesischen Herstellers Sinovac kommt in der Türkei zum Einsatz, dessen Wirkungsgrad allerdings umstritten ist. Inzwischen sind auch 4,5 Millionen Dosen von Biontech/Pfizer verfügbar. Zudem soll der russische Impfstoff Sputnik V bald in dem beliebten Urlaubsland produziert werden.

Impferfolg und harter Lockdown müssen sich also positiv auf das Infektionsgeschehen in der Türkei auswirken – denn sowohl die Auslastung der Intensivstationen als auch der Tourismus bestimmen das Schicksal des ganzen Landes.

Verwendete Quellen
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