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Putin bricht Wahlversprechen: Zehntausende gehen in Russland auf die Straße


Putin bricht Wahlversprechen
Zehntausende gehen in Russland auf die Straße

Von dpa, reuters, jmt

Aktualisiert am 30.07.2018Lesedauer: 4 Min.
Ein Mann tritt auf das am Boden liegende Bild des russischen Präsidenten Putin: Zehntausende Russen haben gegen eine umstrittene Erhöhung des Rentenalters demonstriert.Vergrößern des Bildes
Ein Mann tritt auf das am Boden liegende Bild des russischen Präsidenten Putin: Zehntausende Russen haben gegen eine umstrittene Erhöhung des Rentenalters demonstriert. (Quelle: Pavel Golovkin/ap)

Viele Russen haben sich von Präsident Putin eine Rentenerhöhung versprochen. Was sie bekommen sollen: ein höheres Rentenalter. Es kommt zu Protesten im ganzen Land.

Zehntausende Russen haben gegen eine umstrittene Erhöhung des Rentenalters demonstriert und den Rücktritt von Regierungschef Dmitri Medwedew gefordert. Der Ärger der Demonstranten richtete sich auch gegen Präsident Wladimir Putin, dessen Beliebtheitswerte seit Bekanntgabe der Rentenpläne im Juni deutlich gesunken sind. "Putin ist ein Dieb", riefen die Menschen und "Weg mit dem Zaren".

Gewerkschaften und Kommunisten mobilisierten

Gewerkschaften, die Kommunistische Partei und linke Gruppen hatten ihre Anhänger in Dutzenden russischen Städten, darunter St. Petersburg, Jekaterinburg, Nowosibirsk und Wladiwostok mobilisiert. In Moskau gingen am Samstag nach verschiedenen Schätzungen zwischen 6.500 und 12.000 Menschen auf die Straße. Auch am Sonntag gab es in mehreren Städten Kundgebungen. In Moskau organisierten linke Gruppen eine Demonstration, an der sich der Oppositionelle Alexej Nawalny beteiligte. Nach Polizeiangaben kamen rund 2.500 Menschen. Berichten zufolge wurden drei der Organisatoren festgenommen, die Hintergründe waren zunächst unklar.

Hintergrund sind die Pläne für eine Rentenreform: Die Regierung will das Rentenalter bis 2034 schrittweise anheben. Männer sollen statt wie bisher mit 60 künftig mit 65 Jahren in Rente gehen, Frauen sollen 8 Jahre länger arbeiten – bis 63. Die Maßnahme ist Teil eines unpopulären Haushaltspakets, das die öffentlichen Finanzen stabilisieren soll und vom Parlament unterstützt wird. Der im März wiedergewählte Putin hatte versprochen, dass das Renteneintrittsalter nicht angehoben wird und versuchte, sich von dem Gesetzentwurf zu distanzieren.

Rund 46 Millionen Rentner in Russland

Stand Januar 2018 leben in Russland rund 46 Millionen Rentner, das entspricht etwa 32 Prozent der Bevölkerung. Die Durchschnittsrente beträgt umgerechnet rund 200 Euro. "Man kann von der Rente leben, wenn man das Geld nur für Essen und die Wohnung ausgibt und einmal im halben Jahr etwas zum Anziehen kauft. Für mehr reicht es nicht", sagte die 59-jährige Rentnerin Nadeschda bei der Kundgebung in Moskau.

Die Pläne hatten landesweit einen Schock ausgelöst. Viele hatten auf eine Rentenerhöhung gehofft, nun sollen sie länger arbeiten. Den unabhängigen Meinungsforschern vom Lewada-Zentrum zufolge lehnen rund 90 Prozent der Russen die Reform ab. Unmut hatte auch der Zeitpunkt gebracht: Die Regierung hatte die Pläne am 14. Juni im Schatten der Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft mitgeteilt, als das ganze Land in Vorfreude auf das Turnier schwelgte. Kritiker sahen darin eine "Respektlosigkeit des Staates gegenüber dem Volk".

Gewerkschaftler brachten eine Online-Petition auf den Weg, die bislang rund 2,9 Millionen Menschen unterzeichnet haben. Darin argumentieren sie, dass in Dutzenden Gebieten Russlands die Lebenserwartung für Männer unter 65 Jahren liege. "Eine Umsetzung der vorgeschlagenen Erhöhung des Rentenalters heißt, dass ein großer Teil der Bürger nicht bis zur Rente überleben wird." Auch beim Protest in Moskau gab es Plakate, auf denen stand: "Ich sterbe bis zur Rente."

Große soziale Sprengkraft

Im russischen Durchschnitt beträgt die Lebenserwartung für Männer etwa 67 und für Frauen rund 77 Jahre. In Deutschland, wo die Rente ab 2031 mit 67 Jahren beginnen soll, liegt die Lebenserwartung für Männer bei rund 78 und für Frauen bei rund 83 Jahren. Auch in Deutschland wird teils heftig über die Rente diskutiert, denn auf immer weniger Einzahler in die Rentenversicherung kommen immer mehr Rentner.

Welch soziale Sprengkraft das Projekt in Russland birgt, zeigen auch Auseinandersetzungen im Parlament. Während die Regierungspartei Geeintes Russland das Gesetz in erster Lesung fast geschlossen durchwinkte, formierte sich in der eigentlich als systemnah geltenden Opposition Widerstand. "Es ist schwierig, sich andere Entscheidungen der Staatsmacht vorzustellen, die eine derart einhellige Ablehnung auslösen", kommentierte der Soziologe Denis Wolkow von Lewada.

Nur einer hielt sich lange bedeckt zu dem unpopulären Projekt: Gut einen Monat dauerte es, bis sich Präsident Wladimir Putin äußerte. Ihm gefalle die Erhöhung des Eintrittsalters nicht, doch sie sei notwendig, sagte er. "Wir dürfen uns nicht von Emotionen leiten lassen". 1970 seien auf einen Rentner noch 3,7 Arbeiter gekommen, heute kämen "auf fünf Pensionäre sechs Arbeitnehmer, und deren Zahl wird sinken", sagte Putin. "Dann wird das System platzen."

So stellte sich Putin demonstrativ hinter seine Regierung. Änderungen wurden zwar angekündigt, um die Sorgen der Bürger zu berücksichtigen. Reformgegner befürchten etwa, dass sie im Alter kaum einen Job finden oder aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können.

Experten verweisen indes darauf, dass das Pensionsalter inzwischen ohnehin für viele nur Theorie ist. Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat arbeiten rund 40 Prozent der Männer zwischen 60 und 65 sowie der Frauen zwischen 55 und 63 Jahren trotz ihrer Pension weiter. So sei die Rente für Geringverdiener ein zweites Einkommen für einen würdigen Lebensstil, kommentiert die Zeitung "Wedomosti".

Für den Herbst, wenn weitere Abstimmungen über die Reform in der Duma anstehen, erwarten Experten neue Proteste. Doch nur wenige trauen dem Thema bei aller Brisanz zu, langfristig Massen zu mobilisieren. Der Soziologe Wolkow sagte, die schärfsten Kritiker kämen aus der alten Garde der Opposition. Und der vertrauten viele Russen nicht.

Verwendete Quellen
  • dpa, Reuters
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