Fingierter Mord in Kiew Der Westen sollte sich mit Kritik zurückhalten
Nach dem fingierten Mord am Journalisten Arkadi Babtschenko in Kiew hagelt es Kritik am vermeintlichen Opfer. Das ist vermessen, meint Sergej Sumlenny von der Böll-Stiftung in Kiew.
Die Totgeglaubten leben länger – müssen aber unter Umständen mit Kritik rechnen. Der im Kiewer Exil lebende russische Journalist Arkadi Babtschenko sei Opfer eines aus Russland organisierten Attentats gewesen, sagt der ukrainische Geheimdienst SBU. Der Dienst habe das Attentat verhindert. Und nur zu Ermittlungszwecken das Spiel der Täter mitgespielt.
Arkadi Babtschenko wurde für tot erklärt, um einen Tag später lebendig und glücklich an einer SBU-Pressekonferenz teilzunehmen. Nach der erfolgreichen Festnahme der Hintermänner, betont der SBU.
Doch dem ersten Jubel um den lebendigen Babtschenko schloss sich eine Welle der Kritik an. Darf ein Journalist so weit gehen? Dürfen die Geheimdienste so intensiv vertuschen oder manipulieren? Vor allem die westlichen Medien fragen: Wie sehr wurden journalistische Integrität und Standards verletzt, wie sehr schadet das dem Vertrauen der Menschen in die Medien?
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Natürlich ist die Sache noch weit davon entfernt, vollständig aufgeklärt zu sein. Das SBU muss wasserdichte Beweise vorlegen, die dem Umfang und Charakter der Operation angemessen sind. Der angeblich festgenommene Drahtzieher muss seine Version berichten. Das alles darf nicht im Jubel um den lebendigen Babtschenko vergessen werden.
Doch aus deutscher Perspektive ist auch ein weiterer Aspekt wesentlich: Dürfen wir aus unserer Wirklichkeit eines demokratischen Landes, das in einem stabilen Rechtsstaat Frieden und Freiheit genießt, so selbstgerecht einen Mann für seine Kooperation mit einem Geheimdienst kritisieren – nur weil er sich offensichtlich vor einem Attentat retten wollte?
Diese Dinge gilt es zu berücksichtigen
Dürfen wir Arkadi Babtschenko überhaupt vorwerfen, journalistische Standards verletzt zu haben? Man kann und sollte darüber zu Recht intensiv diskutieren, sollte aber einige Aspekte berücksichtigen, die aus der deutschen Perspektive nicht unbedingt offensichtlich sind.
Zuerst: Arkadi Babtschenko ist natürlich nach deutschen Maßstäben kein Journalist. Eher ein Aktivist, ein Schriftsteller, ein Publizist, ein Prediger. Seine Sprache war und ist nicht die Sprache eines westlichen Journalisten, der in einer Demokratie aufgewachsen ist und alle Vorteile dieser Demokratie genießen konnte. "96 Jahre alt" wolle er werden und "auf dem Grab Putins" tanzen. Kein deutscher Journalist hätte so etwas geschrieben.
Aber Babtschenko ist kein deutscher Journalist.
Zur Erinnerung: Seinerzeit war Babtschenko Soldat im russischen Krieg in Tschetschenien – in dem einige Zigtausende Zivilisten unter grausamen Umständen getötet wurden. Er kehrte traumatisiert zurück und begann damit, diesen und andere Kriege des Kremls zu enthüllen – so wie er es für richtig hielt. Dafür werde er von seiner Regierung gejagt, sagte er. Regelmäßig habe er Drohungen erhalten und habe schließlich ins Exil gehen müssen.
Natürlich waren und sind seine Sprache, seine Überzeugungen und seine Moral anders verfasst als bei einem deutschen Kollegen. Doch ist dies nicht auch angesichts einer derart persönlichen Geschichte zumindest nachvollziehbar?
Ein weiterer Teil der Kritik richtet sich an die Aktionen des SBU. Durften sie die Öffentlichkeit bewusst falsch informieren? Bislang hat es den Anschein, dass sogar der ukrainische Premierminister Hrojsman nichts von der Aktion wusste – wie auch der deutsche Bundespräsident Steinmeier, der bei seinem Besuch nach Kiew den angeblichen Mord an Babtschenko stark kritisiert hat. Jetzt schlägt die Entrüstung über den vermeintlichen Mord in eine Welle der Enttäuschung um – und sogar die renommierten internationalen Organisationen wie "Reporter ohne Grenzen" kritisieren das Verhalten des SBU massiv.
Viele Journalisten und Politiker sterben in Kiew
Aber dürfen wir hier wiederum die Angelegenheit nach unseren deutschen Erfahrungshorizonten messen? Kiew ist keine Stadt im Frieden wie Berlin und das SBU ist kein Geheimdienst eines im Frieden lebenden Landes. Natürlich ist der Krieg in Donbas keine Entschuldigung für alles – aber die Gefahr eines Anschlages im Zentrum Kiews ist für jede Person in der Ukraine sichtbar.
Allein in den letzten zwei Jahren wurden in Kiew viele Journalisten, Politiker, Aktivistinnen mit Russland-Bezug getötet: mit Autobomben, im Kugelhagel aus Maschinengewehren.
- Der russische Exil-Journalist Pawel Scheremet starb im Juli 2016 in seinem Auto nur 300 Meter von der deutschen Botschaft durch eine Bombe.
- Im März 2017 wurde der russische Exil-Politiker Denis Woronenkow vor dem Eingang eines Luxushotels im Zentrum Kiews mit mehreren Schüssen getötet.
- Die Russin Amina Okujewa, die sich im Jahr 2014 freiwillig der ukrainischen Armee anschloss, überlebte im Juni 2017 in Kiew einen Anschlag, nur um wenige Monate später im Kugelhagel einer Maschinenpistole bei einem zweiten Attentat zu sterben.
Wöchentlich wird im Lande eine Handgranate eingesetzt – und das bei "gewöhnlichen", nicht politisch motivierten Straftaten! Zweimal in den letzten drei Monaten kam in der Hauptstadt Kiew eine Panzerabwehrrakete zum Einsatz.
Methode ist auch im Westen bekannt
Die Inszenierung des Todes von Arkadi Babtschenko war natürlich eine Ausnahmeaktion – und sie kann durchaus als Akt der Verzweiflung verstanden werden. Dürfen wir aber aus unserer deutschen Perspektive, in der wir keinen derartigen Gefahren ausgesetzt sind, hier mit unserer Kritik so schnell sein? Ich glaube nicht.
Natürlich bedeutet das nicht, dass man allen Berichten des SBU sofort glauben muss. Und natürlich müssen die Beweise dem Gericht und dem Publikum schnellstmöglich vorgelegt werden. Aber bevor man laut auf eine angebliche Unzulässigkeit der SBU-Aktion hinweist und die Integrität von Babtschenko öffentlich bezweifelt, muss man an den Kontext denken. Und auch daran, dass sogar in westlichen Demokratien die Polizei im Notfall zu diesem letzten Mittel greift und den Tod des Opfers inszeniert.
Im Jahr 1982 fingierte die französische Polizei den Tod eines Exilanten aus dem kommunistischen Rumänien, um ein aus Bukarest organisiertes Attentat zu verhindern. Im Jahr 1999 inszenierte die Polizei in Estland den Mord an einem Kollegen, um eine Bande von Wilderern zu schnappen, die den Polizisten töten wollten. Eine ähnliche Situation lag 2017 in Texas vor, als die Polizei dort eine Frau festnahm, die den Tod ihres Ehemannes "bestellt" hatte. Hier wurde sogar ein Foto des vermeintlichen Leichnams des Ehemannes – mit einem Kopfschuss – gefertigt, um die Auftraggeberin zu enthüllen.
Doch von zentraler Bedeutung ist: Wenn das Attentat auf Arkadi Babtschenko tatsächlich geplant und in Vorbereitung war, bedeutet seine Rettung bei Weitem nicht das Ende. Das Leben eines Vaters von sechs Kindern könnte jetzt erst recht in Gefahr sein. Das dürfen wir, die wir unsere Sicherheit in vollem Umfang und uneingeschränkt genießen, für keine Sekunde vergessen.
- Sergej Sumlenny ist seit 2015 Leiter des Kiewer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Er ist promovierter Politologe und hat als gelernter Journalist viele Jahre lang für deutsche und russische Medien gearbeitet.