"Angriff des Staates auf das Volk" Opposition erhebt schwere Anschuldigungen gegen Erdogan
Seit Monaten schon eskaliert die Gewalt in der Türkei. Am Samstag wurde nun eine Friedensdemonstration zum Ziel eines verheerenden Doppelanschlags. Die Bilder wirken wie aus einem Kriegsgebiet. Die oppositionelle HDP spricht von einem "Angriff des Staates auf das Volk" und greift Erdogans regierende AKP scharf an.
Nur drei Wochen vor der Neuwahl des Parlaments in der Türkei sind beim schwersten Terroranschlag in der jüngeren Geschichte des Landes über hundert Menschen getötet worden. Nach Informationen der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP liegt die Zahl der Todesopfer bei 122, die der Verletzten bei über 500. Die HDP war nach eigener Einschätzung Ziel des Anschlags und machte der politischen Führung des Landes schwere Vorwürfe.
"Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk", sagte der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas. "Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut. Wir sind mit einem riesigen Massaker konfrontiert." Demirtas kritisierte, die AKP-Regierung habe weder den Anschlag auf pro-kurdische Aktivisten im Juli im südtürkischen Suruc noch den auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgeklärt.
Davutoglu nennt mögliche Urheber
Deutlich zurückhaltender blieb der Mainzer Nahostexperte Günter Meyer gegenüber t-online.de. "Was man aber mit Sicherheit feststellen kann: Erdogan nutzt solche Anschläge systematisch aus", sagte auch er.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte unterdessen: "Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist." Erdogan versprach eine Aufklärung des Anschlags, zu dem sich zunächst niemand bekannte. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte: "Es gibt sehr starke Hinweise darauf, dass dieser Anschlag von zwei Selbstmordattentätern verübt worden ist."
Als mögliche Urheber der Tat nannte Davutoglu die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und zwei linksextremistische Terrorgruppen. Anschläge der PKK auf eine pro-kurdische Demonstration wie die in Ankara erscheinen allerdings extrem unwahrscheinlich. Die Gewalt zwischen der PKK und der Regierung eskaliert seit Juli.
Tausende demonstrieren gegen Regierung
Nach dem Anschlag demonstrierten am Abend in der Millionenmetropole Istanbul Tausende Menschen gegen die Regierung. Sie skandierten "Dieb - Mörder - Erdogan", wie ein dpa-Reporter berichtete. In Sprechchören wurde die verbotene kurdische Arbeiterpartei zu Vergeltungsaktionen aufgefordert. "Rache - PKK", riefen Teilnehmer. Internetnutzer berichteten, der Zugang zu sozialen Medien wie Twitter sei erschwert oder ganz unmöglich.
Laut Innenministerium ereigneten sich die beiden Explosionen um 10:04 Uhr (Ortszeit/09:04 MESZ) vor dem Hauptbahnhof in Ankara. Die HDP und andere regierungskritische Gruppen hatten Demonstrationsteilnehmer dazu aufgerufen, sich ab 10 Uhr am Bahnhof zu versammeln.
Auf Bildern waren Leichen zu sehen, die mit Flaggen und Bannern unter anderem der HDP bedeckt waren. Ein Video zeigt, wie junge Demonstranten tanzen, als hinter ihnen eine der Bomben detoniert. Die HDP teilte mit, Polizisten seien erst nach 15 Minuten am Anschlagsort eingetroffen und hätten dann Tränengas gegen Menschen eingesetzt, die Verletzten helfen wollten.
Proteste auch in Deutschland
Das Auswärtige Amt rät Deutschen, das Zentrum der türkischen Hauptstadt zu meiden. "Landesweit ist mit einer Zunahme der politischen Spannungen zu rechnen", hieß es am Abend bei den Reisehinweisen zur Türkei. "Weitere Anschläge oder gewaltsame Auseinandersetzungen sind nicht ausgeschlossen. Es wird daher nochmals dringend darauf hingewiesen, dass sich Reisende von Demonstrationen, Wahlkampfveranstaltungen und größeren Menschenansammlungen, insbesondere in größeren Städten, fernhalten sollten."
Auch in mehreren deutschen Städten gingen nach dem Terroranschlag spontan Hunderte Menschen auf die Straße. Zu prokurdischen Demonstrationen kam es unter anderem in Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main und Stuttgart. Die Polizei sprach von einem friedlichen Verlauf der Proteste.