Nahost Nach Tötung von Hisbollah-Chef Lage in Nahost hochexplosiv
Im Nahen Osten spitzt sich die Lage zu. Nach der Tötung von Hisbollah-Chef Nasrallah wächst die Sorge vor Vergeltungsschlägen des Irans und seiner Verbündeten sowie internen Konflikten im Libanon.
Die Situation im Nahen Osten ist nach der Tötung von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei einem Luftangriff der israelischen Armee hochexplosiv. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnte den Iran - den wichtigsten Verbündeten der Hisbollah - vor einem Angriff auf sein Land. "Und an das Regime der Ajatollahs sage ich: Wer uns angreift, den greifen wir an", sagte Netanjahu in Tel Aviv. "Es gibt keinen Ort im Iran oder im Nahen Osten, den Israels langer Arm nicht erreichen kann", drohte der Regierungschef.
Auch die Lage innerhalb des Libanons spitzt sich immer weiter zu. Das israelische Militär greift weiter Ziele und Stellungen der Hisbollah-Miliz im Süden des Landes sowie in dem als Hochburg der Gruppe geltenden südlichen Vorort Beiruts an. Nach israelischen Angaben wurde der Kommandeur der Sicherheitsabteilung der Hisbollah, Nabil Kauk, getötet. Auch die Hisbollah setzt ihre Angriffe auf Israel fort. In vielen Teilen Israels gab es Raketenalarm, und Raketen schlugen meist auf offenem Gelände ein.
Auch der Ausbruch eines neuen Konflikts innerhalb des Libanons wird von Beobachtern befürchtet. Welche Folgen die Tötung Nasrallahs für den Libanon hat, ist unklar. Die Hisbollah ist nach der Tötung ihres Generalsekretärs am Freitag stark geschwächt.
Im Libanon beginnt am Montag eine dreitägige Staatstrauer. Die Flaggen wehen auf halbmast, es gibt Sonderprogramme im TV und Radio.
Aber auch zwei Tage nach dem israelischen Angriff hat die Miliz noch immer keine Informationen über die Beisetzung Nasrallahs und Trauerfeierlichkeiten bekanntgegeben. Seinen Nachfolger, der die Geschicke der Hisbollah als Generalsekretär lenken soll, hat die Hisbollah auch noch nicht benannt.
Iran warnt vor Nahost-Krieg - "Alles möglich"
Nach Einschätzung der iranischen Führung sind nach der gezielten Tötung Nasrallahs alle Optionen denkbar - auch ein Nahost-Krieg. "Alle sollten sich bewusst sein, dass die Lage äußerst explosiv und jederzeit alles möglich ist (...) auch ein Krieg", warnte Außenminister Abbas Araghchi. Nasrallahs Blut sei nicht umsonst geflossen und Israel werde die Tat bereuen. Einen eigenen Vergeltungsschlag erwähnte Araghchi allerdings nicht.
Israel hat laut Araghchi für eine internationale Krise gesorgt und die gesamte Welt in Alarmbereitschaft versetzt. Daher habe der Iran auch eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats gefordert, so der Chefdiplomat im Gespräch mit Reportern. Israel habe einen "eklatanten Akt terroristischer Aggression gegen Wohngebiete in Beirut verübt", heißt es in dem Brief von Irans UN-Botschafter Amir Saeid Iravani an das mächtigste UN-Gremium.
Israelische Luftwaffe greift Ziele im Jemen an
Die israelische Luftwaffe griff mit Dutzenden Kampfflugzeugen Ziele im Jemen an. Der großangelegte Einsatz habe Einrichtungen des "Huthi-Terrorregimes" in den Gebieten Ras Isa und Hudaida gegolten, teilte die Armee mit. Angegriffen wurden demnach unter anderem Kraftwerke sowie ein Hafen, der für Ölimporte genutzt wird. Über den Hafen soll die proiranische Huthi-Miliz iranische Waffen und militärische Vorräte transportiert haben, erklärte die israelische Armee. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig prüfen.
Der Luftangriff - rund 1.800 Kilometer von der israelischen Landesgrenze entfernt - erfolgte dem Militär zufolge als Reaktion auf die jüngsten Huthi-Raketenangriffe gegen Israel.
Netanjahu spricht von historischem Wendepunkt
"Dies sind bedeutsame Tage. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt", sagte Netanjahu. Er bezeichnete die gezielte Tötung von Nasrallah als die "Abrechnung mit einem Massenmörder". Nasrallah sei eine Art Turbo der vom Iran geschaffenen "Achse des Bösen" gewesen. "Er war nicht nur irgendein Terrorist, sondern der Terrorist schlechthin", sagte Netanjahu. Der Hisbollah-Chef habe sich der Ermordung zahlloser Israelis, Hunderter Amerikaner und Dutzender Franzosen schuldig gemacht, so Netanjahu.
"Solange Nasrallah am Leben gewesen wäre, hätte er die (militärischen) Fähigkeiten, die wir der Hisbollah genommen haben, schnell wiederhergestellt", fuhr Netanjahu fort. "Seine Beseitigung beschleunigt die Rückkehr unserer Bewohner in ihre Häuser im Norden."
Seit Beginn des Gaza-Kriegs vor fast einem Jahr beschießt die Hisbollah fast täglich den Norden Israels. Deswegen mussten rund 60.000 Bewohner grenznaher Orte in andere Teilen Israels fliehen. Auch im Südlibanon sind Zehntausende wegen des wechselseitigen Beschusses geflohen. Die Hisbollah handelt nach eigenen Angaben aus Solidarität mit der islamistischen Hamas in Gaza. Sie hatte vor Nasrallahs Tod erklärt, die Angriffe erst bei einer Waffenruhe im Gaza-Krieg einzustellen.
Biden zur Tötung Nasrallahs: "Maßnahme der Gerechtigkeit"
US-Präsident Joe Biden bezeichnete die Tötung Nasrallahs als "Maßnahme der Gerechtigkeit" für die Opfer seiner vier Jahrzehnte währenden Terrorherrschaft. Die USA unterstützten weiterhin Israels Recht auf Selbstverteidigung gegen die Hisbollah und andere vom Iran unterstützte Terrorgruppen, sagte Biden. Ziel der USA bleibe die Deeskalation der Konflikte im Gazastreifen und im Libanon auf diplomatischem Wege.
Sorge vor Konflikten
Nach Tötung fast der gesamten oberen Führungsebene ist unklar, wer in der Hisbollah nun die Kommandos geben könnte, auch bei weiteren Angriffen auf Israel. Vermutlich wird die Hisbollah Anweisungen des Irans abwarten. Der ist unter Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei die eigentliche Schutzmacht und wichtigster Unterstützer der Miliz.
Die Tötung und Nasrallahs und das derzeitige Machtvakuum stellen den Libanon innenpolitisch vor große Probleme. Neue innerlibanesische Konflikte könnten drohen. Die libanesische Armee warnte: "Das Armee-Kommando ruft alle Bürger auf, die nationale Einheit zu bewahren und sich nicht in Handlungen ziehen zu lassen, die den zivilen Frieden in dieser gefährlichen und empfindlichen Phase in der Geschichte unseres Landes gefährden." Das Land hat wegen Machtkämpfen seit zwei Jahren keinen Präsidenten und keine Regierung.
In den von ihr kontrollierten Gebieten handelt die Hisbollah im Libanon wie ein eigener Staat und kümmert sich etwa um Infrastruktur, Schulen, Jugendprogramme und Gesundheitseinrichtungen. Sie ist zudem eine einflussreiche politische Partei und stellt Minister. Laut Umfragen unterstützten sie mit etwa 30 Prozent der Bevölkerung aber vergleichsweise wenig Menschen im Land. Das Land ist zudem konfessionell stark gespalten. Bis 1990 tobte im Libanon ein Bürgerkrieg.
Bis zu einer Million Vertriebene im Libanon möglich
Im Libanon könnten nach Angaben des geschäftsführenden Ministerpräsidenten Nadschib Mikati bis zu einer Million Menschen durch Israels Angriffe vertrieben werden. Es sei schon jetzt die größte Zahl an Vertriebenen in der Geschichte des Landes, sagte Mikati in Beirut. Im aktuellen Konflikt mit Israel könne es nur eine diplomatische Lösung geben: "Es gibt keine Wahl für uns als Diplomatie."
Viele Menschen schlafen in Parks, auf der Straße oder am Strand aus Angst vor weiteren Angriffen etwa im Süden, Osten oder im Raum der Hauptstadt Beirut. Seit Beginn der neuen Konfrontationen zwischen Israels Armee und der Hisbollah wurden im Libanon nach UN-Angaben mehr als 210.000 Menschen vertrieben, unter ihnen etwa 120.000 allein in vergangenen Woche. 50.000 Syrer und Libanesen sind zudem nach Syrien geflohen.
Berichte: Israel setzte bei Nasrallah-Tötung gut 80 Tonnen Bomben ein
Bei der Tötung von Nasrallah soll die israelische Luftwaffe nach Medienberichten Bomben mit einem Gewicht von mehr als 80 Tonnen eingesetzt haben. Diese seien von einer Formation von mindestens zehn Kampfjets über dem unterirdischen Hauptquartier der Schiitenmiliz im Süden von Beirut abgeworfen worden, berichteten israelische Medien.
Unter den Geschossen seien auch sogenannte bunkerbrechende Bomben gewesen, die die dicken Wände des Hauptquartiers durchdrungen hätten, hieß es in den Berichten mehrerer Medien. Für diese Angaben gibt es keine offizielle Bestätigung.
- Nachrichtenagentur dpa