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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Putin ignoriert Transnistriens "Hilferuf" "Man wäre schon lange einmarschiert"
Putins Rede zur Lage der Nation war mit Spannung erwartet worden. Der Kremlchef bereitete dabei in Moskau eine Überraschung – weil er ein Thema einfach ignorierte.
Wladimir Putin überrascht wieder einmal. In seiner Rede zur Lage der Nation hat der russische Präsident viele Themen gestreift: den Krieg in der Ukraine, die wirtschaftliche Lage und demografische Probleme Russlands. Auch Drohungen an die Unterstützer der Ukraine ließ Putin nicht aus: Der mögliche Einsatz von westlichen Bodentruppen in dem angegriffenen Land befördere die "reale Gefahr eines Nuklearkonflikts", so der Kremlchef. Rund zwei Stunden dauerte Putins Rede, die er vor etwa 1.000 Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion hielt. So weit, so erwartbar.
Im Ausland blickte man aber besonders gespannt nach Moskau, denn tags zuvor hatten pro-russische Separatisten in der Konfliktregion Transnistrien mit einem Beschluss Aufsehen erregt. Sie baten Russland um "Schutz" vor der Republik Moldau, zu der Transnistrien eigentlich gehört. So mancher Beobachter fühlte sich sofort an das nur allzu bekannte Drehbuch des Kremls erinnert: Auch in der Ostukraine hatten russlandfreundliche Kräfte Moskau um Schutz vor einer angeblichen Bedrohung der russischsprachigen Bevölkerung angerufen. Die Folge war ein Konflikt, der den Donbass ab 2014 erschütterte und sich 2022 zu einem großangelegten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine entwickelte.
- Rede zur Lage der Nation: Putin droht mit "realer" Gefahr eines Nuklearkonflikts
Doch was machte Putin? Er erwähnte Transnistrien in seiner langen Rede mit keinem Wort. Stattdessen wiederholte der Kremlchef seine alte Leier von einer angeblichen Bedrohung Russlands durch die Nato und betonte die vermeintlich großen Erfolge der russischen Wirtschaft. Warum ignorierte Putin den "Hilferuf" aus Transnistrien, der für ihn genauso gut Einladung für weitere militärische Schritte in der Region sein könnte?
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"In Russland weiß man, dass Moldau physisch nicht zu erreichen ist"
Brigitta Triebel, Chefin des Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Moldau, hat eine scheinbar einfache Erklärung: "Die Bitte aus Transnistrien um 'Schutz' des Kremls ist hybride Kriegsführung Russlands." Moskau wolle wieder Unruhe stiften, denn auch dort wisse man, dass sich die Moldauer nicht erst seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine fragen, wann Russland auch in ihr Land einmarschieren wird, sagt Triebel im Gespräch mit t-online.
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Zur Person
Brigitta Triebel leitet das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in der moldauischen Hauptstadt Kischinau. Zuvor war sie Leiterin des KAS-Büros im ukrainischen Charkiw. Die Kultur- und Politikwissenschaftlerin promovierte zur Geschichte des Kalten Krieges.
Dennoch sei es nicht verwunderlich, dass Putin Transnistrien letztlich ignorierte, so Triebel. "In Russland weiß man, dass Moldau derzeit physisch nicht zu erreichen ist." Und Putin scheint die Situation realistisch einzuschätzen: "Könnten russische Truppen an die Grenze Moldaus gelangen, wäre man schon lange einmarschiert", sagt Triebel. Im Ukraine-Krieg stießen russische Truppen am Schwarzen Meer entlang Richtung Odessa und damit auch in Richtung Moldaus vor. Sie haben die ukrainische Hafenstadt jedoch bisher nicht erreicht. Auch eine Eroberung in naher Zukunft erscheint vor allem wegen der Schwäche der russischen Schwarzmeerflotte derzeit als unrealistisch.
Keine Aufnahme von Russland gefordert
Zudem gleiche der Beschluss aus Transnistrien eher einem allgemeinen Aufruf: "Nicht nur Russland, sondern auch die EU wurde um Schutz angerufen", erklärt Triebel. Ähnliches ist in den vergangenen Jahrzehnten häufiger vorgekommen. "Es wäre eine neue Qualität gewesen, hätte man die Aufnahme durch Russland gefordert", sagt Triebel. Russland aber erkenne Transnistrien momentan nicht einmal an.
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Laut Triebel hat die Bitte der Separatisten in Transnistrien daher vor allem innenpolitische Gründe: "Moldau erhebt seit gut zwei Jahren Steuern, die Unternehmen aus der abtrünnigen Region zuvor kaum gezahlt hatten." Lange Jahre hätten die oligarchisch geführten Unternehmen quasi unbehelligt Geschäfte in Moldau, der Ukraine, Russland und auch in der EU machen können. Mit Blick darauf und auf die in diesem Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen wollten die Separatisten womöglich Druck auf Amtsinhaberin Maja Sandu ausüben, vermutet Brigitta Triebel.
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"Hätte zumindest einen Kommentar erwartet"
Den Osteuropaexperten Andreas Umland hat es überrascht, dass Putin Transnistrien ignorierte: "Ich hätte von Putin zumindest einen Kommentar zu Transnistrien erwartet", sagt der Mitarbeiter des Stockholmer Zentrums für Osteuropastudien zu t-online. Es sei absehbar gewesen, dass Putin die Region nicht direkt annektieren würde. "Es ist aber gar nichts gekommen, und das verwundert." Möglicherweise sei die Bitte aus Transnistrien schlicht zu kurzfristig gewesen, mutmaßt Umland.
Zur Person
Andreas Umland (*1967) ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet von Kiew aus als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien. Umland gründete die Buchreihe "Soviet and Post-Soviet Politics and Society" ("Sowjetische und postsowjetische Politik und Gesellschaft").
Putins Diskurs sei ohnehin eher als Wahlkampfrede einzuordnen, meint der Experte. Der Kremlchef ist jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht mit der abtrünnigen Region fertig. "Denn Transnistrien ist klarer Bestandteil der heutigen Neurussland-Idee etlicher russischer Ideologen", sagt Umland. Dieser Idee hängt auch Putin an, der "Neurussland" in der Rede an die Lage der Nation mehrfach erwähnte. Damit ist die Region nördlich des Schwarzen Meeres gemeint. Russische Ideologen versuchen, aus der Geschichte der Region angebliche Machtansprüche Russlands zu konstruieren.
Dass Putin außerdem dem Thema Demografie großen Platz in seiner Rede einräumte, bezeichnet Umland als "erstaunlich". Der russische Präsident machte auf den Bevölkerungsschwund in seinem Land aufmerksam und forderte die Menschen auf, große Familien mit vielen Kindern zu gründen. Davon abgesehen, war laut Umland jedoch kaum ein Aspekt an der Rede des Kremlchefs überraschend. "Der russische Präsident hat die innenpolitische Lage mit Lob überschüttet, ist bis ins Detail auf wirtschaftliche Erfolge eingegangen", sagt er. "Man könnte Putins Stil als 'neosowjetisch' bezeichnen", so der Russlandexperte. Denn die Art und Weise der Rede gleiche der von früheren Staatsoberhäuptern der Sowjetunion.
- Telefoninterviews mit Brigitta Triebel und Andreas Umland