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Türkei | Erdoğans Wahlsieg: "Die jungen Leute haben keine Hoffnung mehr"


"Kommt zurück, junge Leute"
Lieber auswandern als unter Erdoğan leben

Von afp, dpa, lw

Aktualisiert am 30.05.2023Lesedauer: 4 Min.
Recep Tayyip Erdoğan: Der türkische Präsident bleibt im Amt – was bedeutet das für die Zukunft des Landes?Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdoğan: Der türkische Präsident bleibt im Amt. Was bedeutet das für die Zukunft des Landes? (Quelle: Ali Unal)

Führt Erdoğans Sieg bei der Stichwahl in der Türkei zu einer Massenabwanderung junger Menschen? Die Stimmung in der Bevölkerung ist höchst angespannt.

"Wenn Erdoğan gewinnt, verlasse ich die Türkei", sagte Ezgi vor der Stichwahl am Sonntag. Die 25-Jährige hatte "alle Hoffnung verloren", dass der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach 20 Jahren an der Macht doch noch ablösen könnte – zu Recht, wie sich herausstellte. Erdoğan hat die Stichwahl gewonnen.

So wie Istanbulerin Ezgi sehen viele junge Türken unter der islamisch-konservativen Führung keine Perspektive mehr für sich in ihrer Heimat. "Ich liebe mein Land zutiefst, aber ich möchte nicht wie die iranischen Frauen enden", sagte Ezgi, die im Marketing arbeitet und ihren Familiennamen lieber nicht nennen möchte. Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester plant sie nun, nach Erdoğans Sieg, in die Niederlande zu ziehen.

"Es wird nicht richtig regiert"

Hasibe Kayaroglu hatte gehofft, dass die Wahl einen Wandel in der Türkei einleiten würde. Vor der ersten Runde Mitte Mai galt der Sozialdemokrat Kılıçdaroğlu als Favorit. Tatsächlich stimmten aber 49,5 Prozent der Wählerinnen und Wähler für Erdoğan, sein Herausforderer bekam 44,9 Prozent der Stimmen – eine Enttäuschung für viele jüngere Türken.

"Jeden Abend reden mein Mitbewohner und ich nur darüber, wie wir hier wegkommen können", erzählte Kayaroglu, Ingenieurstudentin aus Ankara. "Die jungen Leute haben keine Hoffnung mehr." Andere jüngere Türken zeigten sich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP kurz vor der Stichwahl am Sonntag ebenso pessimistisch. Sie machen Erdoğan für die desolate wirtschaftliche Lage im Land verantwortlich und werfen ihm vor, ihre Freiheiten zu beschränken.

"Wir leben in einem schönen Land, aber es wird nicht richtig regiert und es wird immer schlimmer. Deshalb gehen viele junge Leute ins Ausland", sagte Emre Yörük. Sein älterer Bruder dränge ihn, auszuwandern – wie es jedes Jahr bereits Zehntausende junge Türken tun.

Auch Studentin Eslem Ataylar befürchtet nach der Wiederwahl Erdoğans, dass immer mehr Menschen das Land verlassen wollen. "Ich fühle mich schlecht und bin enttäuscht, da ich befürchtet hatte, dass Kılıçdaroğlu nicht gewinnen wird." Ihre Freunde seien hoffnungslos. Doch sie selbst plane zu bleiben. Die 23-Jährige fragt: "Wenn alle gehen, wer wird dann helfen, die Türkei wieder aufzubauen?"

"Die Jugend beklagt sich über die wirtschaftliche Situation"

In einer Anfang 2022 veröffentlichten Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung gaben 72,9 Prozent der Türken zwischen 18 und 25 Jahren an, dass sie ins Ausland ziehen würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. "Der Anteil ist selbst unter jungen Menschen hoch, die die AKP oder die MHP unterstützen", sagte Demet Lüküslü, Jugendsoziologin an der Yeditepe-Universität in Istanbul. Die AKP ist die Partei Erdoğans, die ultranationalistische MHP ihr Koalitionspartner. "Die Jugend beklagt sich über die wirtschaftliche Situation, aber auch über ein gesellschaftliches Klima, in dem sie sich unwohl fühlt", so Lüküslü.

Die Abwanderung junger, oft gut ausgebildeter Türken war im Wahlkampf kein Thema. In den letzten Tagen vor der Entscheidung drehte sich die Kampagne vor allem um die Frage, ob die 3,7 Millionen Flüchtlinge in der Türkei in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden sollen.

Erdoğan sprach im Herbst abfällig von den "verachtenswerten Launen" mancher junger Leute. "Wir blicken mit Mitleid auf diejenigen, die an die Türen anderer Länder klopfen, nur um ein schöneres Auto oder ein besseres Telefon zu bekommen."

"Kommt zurück, junge Leute"

"Kommt zurück, junge Leute. Dieses Land braucht euch", twitterte hingegen Kılıçdaroğlu Anfang Mai und reagierte damit auf ein Video von Absolventen der renommierten Istanbuler Boğaziçi-Universität. Sie hatten erklärt, zurückzukehren, sollte Kılıçdaroğlu sie darum bitten.

Ömer Altan ist einer der Absolventen. Er hatte bis zuletzt auf einen Sieg des Oppositionskandidaten gehofft. "Immer mehr junge und auch weniger junge Menschen denken darüber nach, ins Ausland zu gehen", sagte er und beklagte die "Ungleichheit und Korruption" in der Türkei. Altan macht in Dänemark einen Master in Elektrotechnik. Der 25-Jährige will trotz Erdoğans Sieg in seine Heimat zurückkehren. Es sei nun noch wichtiger, Gutes zu tun.

"Erdoğan ist die beste Wahl"

Viele junge Menschen unterstützen den wiedergewählten Präsidenten jedoch auch. So etwa Yunus Emre Ayranc. Der 22-Jährige sagte: "Unsere Wirtschaft ist in einem schlechten Zustand, aber Erdoğan ist die beste Wahl." Zunächst habe er für den Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu stimmen wollen, sich dann aber anders entschieden.

Mahmud Ubeyd aus Damaskus lebt seit zehn Jahren in Ankara. Trotz der scharfen Rhetorik im Wahlkampf gegen die zahlreichen Geflüchteten aus Syrien hielt der 22-Jährige einen Wahlsieg Erdoğans für gut für die Türkei, "für die Jugend" und für "alle Muslime".

Journalistin sieht auch Erfolg für Opposition

Die deutsche Journalistin Mesale Tolu erwartet, "dass vor allem Jugendliche, aber auch Akademiker aus dem Land auswandern werden". Ursache sei, dass die Meinungsfreiheit "von Erdoğan tagtäglich angegriffen" werde und Menschen "ihre Arbeit nicht mehr frei ausführen können".

Tolu sieht trotz des Siegs von Amtsinhaber Erdoğan auch einen Erfolg für die Opposition. "Die oppositionellen Menschen sind geeinter, sie haben gesehen, dass sie es hätten schaffen können", sagte sie am Sonntag im Fernsehsender Phoenix. "So nah dran war man, glaube ich, in den letzten 21 Jahren bisher noch nie."

Laut vorläufigen Ergebnissen erhielt der islamisch-konservative Amtsinhaber Erdoğan gut 52 Prozent der Stimmen, sein sozialdemokratischer Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu knapp 48 Prozent. Es war die erste Stichwahl in der Geschichte der Türkei.

Tolu, die 2017 in der Türkei wegen des Vorwurfs der Terrorpropaganda inhaftiert war, geht allerdings nicht davon aus, dass dies Einfluss auf die türkische Politik haben werde. "Es wird nichts demokratischer", sagte sie. Vielmehr habe Erdoğan sein System mit der Wahl "noch einmal zementiert".

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagenturen dpa und AFP
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