Sinan Oğan Wird er zum Königsmacher der Türkei-Wahl?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Wahl in der Türkei ging ohne Sieger aus, Ende Mai kommt es wohl zur Stichwahl. Entscheidend könnte dabei die Wahlempfehlung des Drittplatzierten sein.
Die Türkinnen und Türken haben gewählt – und sind dabei tief gespalten. Beim Stand von rund 95 Prozent der ausgezählten Wahlurnen im Inland und rund 37 Prozent im Ausland liegt Recep Tayyip Erdoğan (AKP) laut Wahlbehörde bei 49,49 Prozent der Stimmen (Stand: Montagmorgen). Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) kam demnach auf 44,79 Prozent. Beide verfehlten damit die absolute Mehrheit von 50 Prozent. Die Endergebnisse wurden noch nicht verkündet. Es ist noch unklar, wann damit zu rechnen ist.
Sinan Oğan von der Ata-Allianz erhielt rund 5,3 Prozent der Stimmen – und hat damit möglicherweise dafür gesorgt, dass Amtsinhaber Erdoğan und Konkurrent Kılıçdaroğlu am 28. Mai in eine Stichwahl gehen müssen. Oğan liegt zwar weit abgeschlagen hinter den anderen beiden Präsidentschaftskandidaten auf dem dritten Platz, eine mögliche Wahlempfehlung seinerseits könnte bei einer Stichwahl jedoch wahlentscheidend sein. Dafür will er sich nun mit seinen Anhängern beraten, kündigte er am Montag an.
Wer ist Sinan Oğan?
Sinan Oğan ist der Präsidentschaftskandidat des ultranationalistischen Parteienbündnisses Ata. Der 55-jährige Nationalist war einst Abgeordneter und ist ehemaliges Mitglied der ultranationalistischen Partei MHP, einem Bündnispartner Erdoğans. Seit 2017 ist Oğan parteilos. Seine Präsidentschaftskandidatur kündigte Oğan im September via Social Media mit der Formulierung "Unabhängiger Präsidentschaftskandidat der türkischen Nationalisten" an.
Ideologisch steht Oğan dem nationalistischen Lager Erdoğans nah. Allerdings hat sich Oğan im Wahlkampf deutlich gegen den amtierenden Präsidenten positioniert. Das aber laut Einschätzung von t-online-Redakteur Patrick Diekmann vor allem, um im AKP-Spektrum Stimmen abzugreifen. Seine Analyse zur Wahl lesen Sie hier.
Bereits vor der Wahl war klar, dass Oğan keine Chance auf einen Sieg hat. Während einige Medien ihn vor dem 14. Mai nicht einmal in ihren Statistiken aufführten, weil er als Kandidat zu wenig Rückhalt zu haben schien, könnte er nun zum Königsmacher werden.
Oğan hat aserbaidschanisch-türkische Wurzeln und wurde im Osten der Türkei, in Iğdır, geboren. Der Sohn einer Bauernfamilie hat an der Marmara-Universität in Istanbul Betriebswirtschaft studiert und einen Master in Finanzrecht/Bauwesen. 2009 promovierte er in internationalen Beziehungen und Politikwissenschaft am Moskauer Institut für Internationale Beziehungen in Russland. Im Jahr 2004 gründete er "Turksam", eine strategische Analyse- und Denkfabrik, und agiert bis heute als deren Präsident.
Welches politische Lager vertritt Sinan Oğan?
Die Ata-Allianz gilt als ultranationalistisch. Ihre Wählerinnen und Wähler stehen tendenziell sehr weit rechts, sind also ideologisch der AKP-MHP-Koalition näher als der CHP von Kemal Kılıçdaroğlu.
Die Anhängerinnen und Anhänger der Ata-Allianz gelten als Protestwähler. Ihre Stimme sagt laut Einschätzung der "Welt" eher etwas darüber aus, für wen sie nicht abgestimmt haben. Ob die Unterstützer von Oğans Bündnis seiner Empfehlung überhaupt folgen würden, ist unklar. In Wahlkampfreden machte er Stimmung gegen Asylsuchende und versprach Wählerinnen und Wählern, dass diese das Land verlassen müssten – wenn nötig mithilfe von Gewalt.
Das Ata-Bündnis besteht aus vier rechtsnationalistisch orientierten Parteien: Partei des Sieges (ZP), Gerechtigkeitspartei (AP), Partei unseres Landes (ÜP) und Bündnis Türkiye Partei (ITTIFAK). Bündnisse wie das der Ata-Allianz erleichtern es kleineren Parteien, die Sieben-Prozent-Hürde zu überwinden. Überschreiten die gültigen Gesamtstimmen aller Parteien einer Allianz diese Hürde, ist die Mindestvoraussetzung für den Einzug ins Parlament erfüllt.
Wen empfiehlt Oğan seinen Anhängern bei der Stichwahl?
Sinan Oğan hat bisher keine Wahlempfehlung abgegeben. "Im Falle einer Stichwahl werden wir schwierige 14 Tage vor uns haben", sagte er am Wahlabend ohne einen Hinweis darauf, welchen Kandidaten er am 28. Mai unterstützen wird. Nach der Präsidentenwahl will er mit seinen Anhängern das weitere Vorgehen ausloten. Angesichts der wahrscheinlichen Stichwahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu wertete er es als Erfolg, dass sein Lager eine wichtige Rolle einnehmen könnte. "Unser Volk kann beruhigt sein. Wir werden niemals zulassen, dass die Türkei in eine Krise gerät", sagte er in der Nacht zu Montag.
Gegenüber dem "Spiegel" nannte Oğan eine Reihe von Bedingungen für die Unterstützung eines Präsidentschaftskandidaten. Demnach wolle er nicht, dass Verfassungsgrundsätze verletzt werden, sagte er, darunter unter anderem jene, die die Integrität des Staates betreffen, die Republik, die Amtssprache und die türkische Identität. Seine Allianz will eine restriktive Flüchtlingspolitik. Es kommt Oğan laut "Spiegel" außerdem darauf an, dass die prokurdische, islamistische Partei Hüda Par und die prokurdische, linke HDP künftig keine Rolle in der türkischen Politik spielen.
"Unsere Grundlogik ist, dass die HDP nicht im System sein sollte", sagte er dem deutschen Nachrichtenmagazin. Letzteres dürfte für Kemal Kılıçdaroğlu zum Problem werden. Der Präsidentschaftskandidat der CHP ist auf die Stimmen der Kurdinnen und Kurden angewiesen, die HDP hatte sich vor der Abstimmung am Sonntag für ihn ausgesprochen.
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Warum ist Oğans Rolle so entscheidend?
Die Wahl am Sonntag galt als richtungsweisend. Und die nächsten zwei Wochen bis zur Stichwahl am 28. Mai werden für die Türkinnen und Türken im In- und Ausland vermutlich aufreibend. Es wird befürchtet, dass das Nato-Land unter weiteren fünf Jahren Erdoğan noch autokratischer werden könnte.
Der 74-jährige Kemal Kılıçdaroğlu ist Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System sowie zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch international wird die Wahl aufmerksam beobachtet. Eine neue Regierung hätte Auswirkungen auf Konflikte in der Region wie etwa den Syrien-Krieg, aber auch auf das Verhältnis zur EU und Deutschland.
Alle Beteiligten der türkischen Wahl sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert – es ist nicht nur die erste Stichwahl für Erdoğan, sondern auch für Herausforderer Kılıçdaroğlu – und für die Bürgerinnen und Bürger. Der Präsident wird erst seit 2014 direkt vom Volk gewählt.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP
- spiegel.de: "Erdoğan muss in die Stichwahl – jetzt kommt es auf den Königsmacher an" (kostenpflichtig)
- faz.de: "Erdogan bejubelt "Festival der Demokratie" – und muss wohl in die Stichwahl"
- welt.de: "Dieses Szenario wollte die Anti-Erdogan-Allianz vermeiden"
- zeit.de: "Wahlen in der Türkei: Erdogan gegen Anti-Erdogan"
- bbc.com/turkce: "Sinan Oğan: Olası ikinci tur cumhurbaşkanlığı seçiminin kilit ismi" (türkisch)
- sinanogan.com: "Ozgecmisim" (türkisch)
- trtdeutsch.com: "Sinan Oğan – Präsidentschaftskandidat des ATA-Wahlbündnisses"