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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erdoğans Gesundheitszustand "Wir wissen, dass er schon länger Probleme hat"
In der heißesten Phase des Wahlkampfes zeigt der türkische Präsident Erdoğan Schwäche. Kostet ihn das wertvolle Stimmen?
In der Türkei herrscht etwa zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen Unruhe: Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan unterbrach am Dienstagabend ein TV-Interview – nach eigener Aussage wegen Magenproblemen. Am Mittwoch und Donnerstag sagte der 69-Jährige alle geplanten Wahlkampfauftritte ab, darunter den Besuch des Akkuyu-Atomkraftwerks an der türkischen Südküste, der als wichtigster Termin in dieser Woche galt. Hier lesen Sie mehr dazu.
Wie steht es um Erdoğan – und welche Konsequenzen könnten seine gesundheitlichen Beschwerden für die Wahl haben? Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, ordnet die Situation ein.
t-online: Herr Brakel, welche Folgen können die Absagen der Wahlkampfauftritte für Erdoğan haben?
Kristian Brakel: Das kommt sehr darauf an, wie sich die Situation weiterentwickelt. Wenn Erdoğan nur zwei, drei Tage Veranstaltungen absagt, wird die Unruhe schnell wieder verfliegen und es wird keine nachhaltigen Auswirkungen haben. Sollte es wirklich etwas Ernsteres sein und Erdoğan fällt länger aus, könnte es sein, dass einige Bürgerinnen und Bürger sagen: Es wird Zeit für einen neuen Präsidenten, der den Herausforderungen auch körperlich standhält. Doch Erdoğans größter Herausforderer ist mit dieser Argumentation wohl keine gute Alternative: Kemal Kılıçdaroğlu ist 74 Jahre alt.
Was wissen wir über Erdoğans Gesundheitszustand?
In den vergangenen 24 Stunden gab es viele Spekulationen, etwa dass Erdoğan einen Herzinfarkt hatte. Das konnte bislang nicht bestätigt werden. Aber es gibt auch Gerüchte, dass Russland den Präsidenten vergiftet hat. Das ist eine bizarre Verschwörungstheorie. Was jedoch wahr ist: Erdoğan ist ein älterer Mann. Wir wissen, dass er schon länger Gesundheitsprobleme hat, darunter ein starkes Rückenleiden.
Kristian Brakel
ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul und bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im Zentrum für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien tätig. Brakel studierte Islamwissenschaft in Hamburg und Izmir mit Studienaufenthalten in Jerusalem, Damaskus, Kairo und Amman.
Erdoğan hat offen kommuniziert, dass er derzeit an Magenproblemen leide – wegen des Wahlkampfes.
Es ist sehr ungewöhnlich, dass Erdoğan eingestanden hat, dass der Wahlkampf hart ist. Er hat schon normalerweise ein enormes Programm, hat mindestens ein- bis zweimal pro Tag öffentliche Auftritte, jetzt zum Wahlkampf sind es sogar noch mehr. Dass er sofort öffentlich kommuniziert hat, wie es ihm geht, soll in der Bevölkerung wohl Unsicherheiten beseitigen.
Würde die Öffentlichkeit überhaupt erfahren, wenn es ernst um Erdoğan steht?
In der Türkei herrscht einerseits ein sehr autoritäres System in vielen Bereichen. Anderseits sind viele Informationen frei verfügbar und zirkulieren sehr schnell. Deshalb würde man mitbekommen, wenn Erdoğan staatliche Funktionen wegen seines Zustandes übertragen müsste. Dadurch, dass das System so stark zentralisiert ist, würde das Knirschen im Getriebe sehr schnell auffallen. Wenn es also etwas Ernsteres oder Längerfristiges ist, werden wir das mitkriegen.
Wieso sind Sie sich da so sicher?
Vor ein paar Jahren gab es Berichte darüber, dass Erdoğan eine Krebserkrankung hatte und sich dafür im Ausland hat behandeln lassen. Wir wissen bis heute nicht, ob das so war. Aber dass so viel darüber gesprochen wurde, zeigt, dass solche Informationen nicht komplett von der Öffentlichkeit ferngehalten werden können.
Was macht die Situation mit Erdoğans Anhängerschaft?
Die überzeugten Erdoğan-Unterstützerinnen und -Unterstützer werden wegen dieser Lage nicht abwandern – auch wenn Erdoğan und seine Partei derzeit ohnehin schon schwächer dastehen als früher. Doch es könnte die unentschlossenen Wählerinnen und Wähler und die Neuwählerinnen und -wähler beeinflussen, wenn der Eindruck entsteht, Erdoğan ist körperlich nicht in der Lage, die Arbeit zu stemmen. Das Rennen ist ohnehin schon eng – also wird es sehr spannend, was diese Situation mit der türkischen Bevölkerung macht.
Herr Brakel, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Kristian Brakel am 27. April 2023