Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.47 Kilometer im Privatjet Die Empörung über von der Leyen ist zu billig
Wegen eines 19-Minuten-Flugs von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hagelt es Kritik. Warum eigentlich? Wir können doch nicht den gleichen Maßstab an Spitzenpolitiker anlegen wie an Feiertouristen.
Auf dem Weltklimagipfel in Glasgow predigt sie Klimaschutz und das "Jahr der Schiene", doch wenn keiner hinschaut, nimmt sie den Privatjet für eine Mini-Strecke: So ungefähr lautet die Kritik, die gerade auf Ursula von der Leyen (CDU) einprasselt.
Der Grund: Die EU-Kommissionschefin ist am 21. Juni von Wien ins slowakische Bratislava geflogen. Per Luftlinie ist das eine Strecke von rund 47 Kilometern. Der Flug dauerte gerade mal 19 Minuten.
Der Generalsekretär des Europäischen Steuerzahlerbundes, Michael Jäger, kritisierte die Kommissionschefin scharf: Der Flug habe nicht nur Steuergeld gekostet, sondern "vor allem: viel Glaubwürdigkeit" für die Politikerin. Von der Leyens Flug sei eine "ökologische Sünde".
Doch die Kritik ist zu plump.
Wenn von der Leyen eine Kurzstrecke fliegt, macht sie das in der Regel nicht, weil sie zu faul ist oder aus Privatvergnügen, sondern im Interesse Europas. Ein Kommissionssprecher erklärte dazu: "Mit Abflug und Ankunft in Belgien waren es bei dieser Reise der Präsidentin sieben Länder in zwei Tagen. Alternativen wurden geprüft, doch es gab logistisch keine andere Möglichkeit. Die Präsidentin musste noch am Abend mit demselben Flugzeug von Bratislava nach Riga fliegen."
Es geht um mehr als ein paar Schuhe
Nun kann man das für eine Schutzbehauptung halten. Oder man wischt eben kurz den Empörungsschaum aus den Mundwinkeln und schaltet den Verstand ein: Natürlich müssen Spitzenpolitikerinnen hin und wieder auf Transportmittel zurückgreifen, bei denen nicht der Klimaschutz, sondern Schnelligkeit im Vordergrund steht. Ihr Zeitplan ist eng geschnürt, der Terminkalender voll mit Veranstaltungen und Anwesenheitspflichten. Trotz der Möglichkeit digitaler Meetings lassen sich persönliche Begegnungen nicht völlig streichen.
Als Bürger fordern wir – zu Recht – von unseren Politikern ein Höchstmaß an Effektivität und Tatkraft. Sie verhandeln Rahmenbedingungen, Gesetze und Maßnahmen, die uns alle betreffen. Ein einziges Treffen kann Folgen für Millionen Bürger haben. Wenn logistische Probleme nicht auszuschließen sind, müssen eben Prioritäten gesetzt werden.
Natürlich wirkt es schräg, für eine Strecke, die mit der Bahn in einer Stunde zu schaffen ist, einen Privatjet zu nehmen und gleichzeitig die Welt zu ermahnen, den Klimawandel "unverzüglich mit allen Mitteln zu bekämpfen." Aber wir können an eine Spitzenpolitikerin eben nicht den gleichen Maßstab anlegen wie an vielreisende Partytouristen oder Popstars wie Kanye West, der zig Kilometer im Privatjet fliegt, nur um seinem Millionärsbuddy ein neues Paar Schuhe zu schenken.
Billiges Klima-Shaming
Im konkreten Fall im Juni flog von der Leyen nach Bratislava, um die frohe Botschaft zu verkünden, dass Brüssel den 6,3 Milliarden Euro schweren Corona-Aufbauplan der Slowakei absegnet (der im Übrigen auch Investitionen in den Klimaschutz vorsieht). In einem Land, in dem EU-kritische Kräfte an Boden gewinnen, ist ein persönlicher Besuch der Kommissionschefin keine unnütze Sache. Wenn logistische Risiken – ein unerwarteter Corona-Fall in einer Linienmaschine, eine Zugverspätung – nicht auszuschließen waren und der Besuch andernfalls zur Disposition gestanden hätte, war die Entscheidung für den Privatjet richtig.
Emissionsärmer leben sollte man idealerweise ohnehin aus Einsicht, und nicht, weil man das Verhalten öffentlicher Personen nachahmt. Besser: rhetorisch abrüsten und nicht ins Klima-Shaming verfallen. Lieber effektiv arbeitende Spitzenpolitiker, die hier und da eine Kurzstrecke fliegen, als ein Moral-Tribunal bei jeder kleinsten Abweichung vom rechten Pfad.