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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Streit um Lugano-Abkommen Nach dem Brexit zittert eine ganze Branche
Die Verhandlungen über den Brexit haben eine weitere offene Flanke hinterlassen: Wie umgehen mit grenzüberschreitenden Rechtsfällen? Die EU setzt London gewaltig unter Druck.
Für die Europäische Kommission scheint beim Thema Brexit die Zeit für Nachverhandlungen beendet. Vergangene Woche sprach Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine klare Absage an die Adresse von Premierminister Boris Johnson in Sachen Brexit-Sonderregeln für Nordirland aus. "Wir werden nicht neu verhandeln", lautete von der Leyens Ansage. Man bleibe flexibel, sei offen für kreative Lösungen – aber nur innerhalb des vereinbarten Protokolls. Schluss. Punkt. Aus.
Ähnlich unnachgiebig verhält sich die EU auch bei einer anderen derzeit umstrittenen Frage, die bislang zwar wenig Beachtung fand, jedoch erhebliche Auswirkungen auf den künftigen internationalen Rechtsverkehr haben könnte. Die Kommission verweigert London nämlich den Beitritt zu einem Abkommen, das den Umgang mit grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten regelt.
Das Abkommen beließe praktisch alles so, wie es vor dem Brexit war. Die EU-Kommission aber will das nicht. Und das lässt bei den britischen Kanzleien die Alarmglocken schrillen. Eine ganze Branche droht Schaden zu nehmen.
Was das Lugano-Übereinkommen regelt
Das Vertragswerk, um das es geht, heißt "Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen", kurz: Lugano-Übereinkommen (LugÜ). Es regelt nicht nur, welches Gericht in länderübergreifenden Streitfällen zuständig ist, sondern stellt zudem auch sicher, dass Urteile im Ausland durchgesetzt werden können.
Faktisch erweitert das Abkommen die Gültigkeit der entsprechenden EU-Verordnung Nummer 1215/2012 ("Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen", kurz: "EuGVVO") auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) und des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR). Zum LugÜ gehören neben der EU auch Island, Norwegen und die Schweiz, die allesamt EFTA-Mitglieder sind.
Für die Brexit-Übergangsphase hatten London und Brüssel vereinbart, dass die EuGVVO im grenzüberschreitenden Zivilrechtsverkehr weiterhin Anwendung findet. Doch die Übergangsphase endete zum 31. Dezember 2020 und mit ihr die Gültigkeit der Rechtsverordnung für das Vereinigte Königreich.
Kein Wort im Post-Brexit-Deal
Das kommt in diesem Bereich einem "harten Brexit" gleich. Denn das von EU und Großbritannien vereinbarte Abkommen über die langfristigen Beziehungen ("Handels- und Kooperationsabkommen") hält auf 1.400 Seiten zwar allerlei zum künftigen Waren- und Dienstleistungsverkehr fest, spart jedoch Absprachen zu gerichtlichen Zuständigkeiten oder zur Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsurteilen komplett aus.
London hatte deshalb im April 2020 den Beitritt zum LugÜ beantragt. Für die Aufnahme ist die Zustimmung aller Mitglieder Voraussetzung. Mit Ablauf einer Einjahresfrist hatten Island, Norwegen und die Schweiz ihre Zustimmung signalisiert – nicht aber die EU. In einer offiziellen Stellungnahme vom 4. Mai 2021 lehnte die Kommission den Beitritt mit Verweis auf die von London gewollte, künftig lasche Anbindung an den europäischen Wirtschaftsraum ab. Großbritannien wird demnach behandelt wie ein Drittstaat.
Wörtlich heißt es dort: "Das Lugano-Übereinkommen ist ein wesentlicher Bestandteil des gemeinsamen Raums des Rechts und eine flankierende Maßnahme für die Wirtschaftsbeziehungen der EU zu den EFTA/EWR-Staaten. [...] Diese Staaten nehmen zumindest teilweise am EU-Binnenmarkt teil, der den freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr umfasst. [...] Das Vereinigte Königreich ist ein Drittstaat ohne besondere Verbindung zum Binnenmarkt. Für die Europäische Union besteht deshalb kein Grund, im Verhältnis zum Vereinigten Königreich von ihrem allgemeinen Ansatz abzuweichen."
In dem gleichen Statement schreibt die Kommission, dass sie die Beziehungen zu Drittstaaten in Justizfragen auf Basis der Haager Übereinkommen von 2005 und 2019 regeln möchte. Auch diese Verträge regeln bestimmte Zuständigkeiten sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen. Das Problem ist nur: Die Haager Übereinkommen decken weit weniger ab als Lugano. So bleiben etwa Verbrauchersachen sowie kartellrechtliche und wettbewerbsrechtliche Angelegenheiten außen vor.
Regierung verweist auf Schäden für Bürger
Auf der Insel sorgt die Angelegenheit laut einem Bericht des Senders CNN inzwischen für erhebliche Nervosität. Von befürchteten Milliardeneinbußen und Sorgen um den Ruf des britischen Rechtssystems ist die Rede, aber auch von einem Kalkül der Europäischen Union, den Rechtsdienstleistern im Vereinigten Königreich zum Vorteil der europäischen Konkurrenz zu schaden.
Die Regierung in London verweist auf die möglichen Schäden, die eine weitere Blockade der EU nach sich ziehen könnte. "Für Familien, Verbraucher und Unternehmen würde es künftig schwieriger und kostspieliger werden, grenzüberschreitende Rechtsstreitigkeiten etwa bei Unterhaltsansprüchen oder Streitigkeiten über die Zahlung oder Lieferung von Waren oder Dienstleistungen zu bewältigen", sagte eine Sprecherin der britischen Botschaft in Berlin auf Anfrage von t-online.
Sie betonte zugleich, dass die britische Regierung darauf besteht, alle Anforderungen für die Mitgliedschaft im LugÜ erfüllt zu haben. "Wir werden weiterhin auf die zivilrechtliche Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern drängen, da dies in unserem beiderseitigen Interesse liegt." Von einem Beitritt profitierten alle, so die Sprecherin – EU-Bürger wie Briten, Unternehmen wie Familien.
Mit jedem Tag wächst der Schaden
Tatsächlich steht für die Briten viel auf dem Spiel. Ihr Rechtswesen hatte sich nicht zuletzt wegen der ausgezeichneten Reputation in den vergangenen Jahrzehnten zur ersten Anlaufstelle für internationale Wirtschafts- und Vertragsangelegenheiten entwickelt. Laut CNN stammte im Jahr 2019 bei 77 Prozent aller Rechtsstreitigkeiten, die vor Handelsgerichten landeten, mindestens eine beteiligte Partei aus dem Ausland. 43 Prozent der Fälle hätten sogar ausschließlich ausländische Parteien betroffen. Eine äußerst lukrative Branche für juristische Dienstleistungen sei entstanden, die rund 350.000 Menschen beschäftigt und im Jahr etwa 70 Milliarden Euro jährlich umsetzt (Angabe von 2018) – und die jetzt um ihre Pfründe bangt.
Dominic Grieve, früherer Generalstaatsanwalt für England und Wales, sieht den Schaden mit jedem Tag wachsen. Je länger dieser Streit andauere, "desto schlimmer könnten die Folgen sein", sagte er zu CNN. "Denn es besteht kein Zweifel, dass Großbritannien, als es noch in der EU war, der bevorzugte Ort für die Beilegung von EU-Streitigkeiten jeder erdenklichen Art war." Der Anwalt und frühere Richter Josep Galvez sieht das Land bei der Frage der Vollstreckung britischer Urteile in Europa am Beginn eines schwierigen Weges. "Ich fürchte, der Brexit hat uns auf einen Ziegenpfad geführt, wo es einst eine Autobahn für britische Urteile gab."
- Blog der Anwaltskanzlei CMS: Brexit-Krimi in der grenzüberschreitenden Streitbeilegung
- Beiträge auf dem Blog zpoblog.de
- Anwaltskanzlei Noerr: Vollstreckung von Urteilen aus UK ab dem 01.01.2021
- CNN: The explosive Brexit spat that no one is talking about...
- EU-Verordnung 1215/2012 "EuGVVO"
- Eigene Recherchen