Debatte bei EU-Sondergipfel EU-Staaten wollen Reisen weiter ausbremsen – aber offene Grenzen
Der Schreck aus dem Frühjahr 2020 sitzt noch tief: Einseitige Kontrollen an den Grenzen in Europa sorgten zu Beginn der Corona-Krise für Megastaus. Zum EU-Gipfel ist das Thema zurück.
Im Kampf gegen die Corona-Pandemie wollen die 27 EU-Staaten nicht notwendige Reisen weiter einschränken. Doch sollen die europäischen Grenzen für Waren und Pendler möglichst offen bleiben. Dies berichtete EU-Ratschef Charles Michel am Donnerstagabend nach einem EU-Videogipfel. Die gefürchteten neuen Virusvarianten sollen gezielter aufgespürt werden und die Impfkampagne besser in Schwung kommen. Es soll einen EU-Impfpass geben, aber vorerst keine Vorteile für Geimpfte etwa beim Reisen.
Michel sagte, die Mitgliedsstaaten seien sehr besorgt über die neuen, ansteckenderen Virusvarianten. Deshalb müssten die Beschränkungen aufrecht erhalten und in einigen Fällen womöglich verschärft werden. Die Grenzen müssten jedoch offen bleiben, damit der Binnenmarkt weiter funktionieren könne, fügte Michel hinzu.
Von der Leyen will Corona-Ampel-Karte erweitern
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erläuterte, ihre Behörde wolle eine Erweiterung der bereits bestehenden Corona-Ampel-Karte vorschlagen. Demnach soll für Regionen, in denen sich das Coronavirus sehr stark verbreitet, eine neue "dunkelrote" Kategorie eingeführt werden. Auf der bestehenden Karte werden Regionen auf Grundlage gemeinsamer Kriterien je nach Infektionsgeschehen schon jetzt entweder grün, orange oder rot markiert.
Von Personen, die künftig aus den dunkelroten Zonen verreisen wollen, könne vor der Abreise ein Test verlangt werden sowie Quarantäne nach der Ankunft, sagte von der Leyen. Von nicht notwendigen Reisen solle dringend abgeraten werden. Ein Verbot nicht notwendiger Reisen – wie etwa in Belgien diskutiert – ist nicht vorgesehen. Allerdings kann ohnehin jedes Land für sich selbst entscheiden.
Zu den in der EU erst langsam angelaufenen Impfungen sagte Michel, die Staats- und Regierungschefs wollten eine Beschleunigung. Es solle aber bei dem Prinzip bleiben, dass die Impfstoffe in der EU gleichzeitig und nach Bevölkerungsstärke verteilt werden.
Vorab dem Gipfel hatte Kanzlerin Angela Merkel Grenzkontrollen nicht ausgeschlossen, um hochansteckende Virusformen fernzuhalten. Auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz unterstützte den Vorschlag. "Von allen nicht unbedingt notwendigen Reisen sollte dringend abgeraten werden, sowohl innerhalb eines Landes als auch grenzüberschreitend", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach dem Gipfel.
Zu Beginn der Pandemie fielen die Schlagbäume
Eigentlich herrscht im Schengenraum, dem 26 europäische Länder angehören, Bewegungsfreiheit ohne stationäre Grenzkontrollen. Doch etliche Länder hatten zu Beginn der Pandemie teils unkoordiniert Grenzen dichtgemacht oder Kontrollen veranlasst. An der deutschen Grenze zu Polen staute sich der Verkehr teils Dutzende Kilometer. Verderbliche Waren kamen nicht ans Ziel, Grenzpendler hatten Probleme, ihren Arbeitsplatz zu erreichen.
Die EU-Kommission will eine Wiederholung unbedingt vermeiden. Doch kontrollieren einige Länder bereits wieder an ihren Grenzen, darunter Ungarn, Österreich und Dänemark. Und jetzt lösen die in Großbritannien und Südafrika entdeckten Mutanten des Coronavirus neue Ängste aus, weil sie ansteckender als bisherige Varianten sein könnten.
Testpflichten für Einreisende die Lösung?
Dazu tauschten sich die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrer Videokonferenz erstmals aus. Das Ziel ist klar: Die mutierten Viren gezielter aufspüren und die Verbreitung so weit wie möglich bremsen. Merkel sagte, sie erwarte "besondere Vorkehrungen" bei Einreisen aus Großbritannien und Südafrika. Deutschland hat für Reisende aus diesen Ländern bereits eine Testpflicht eingeführt. Österreichs Bundeskanzler Kurz schlug vor, die Pflicht in ganz Europa einzuführen.
Grenzkontrollen oder -schließungen innerhalb der EU lehnte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn strikt ab. Wenn Pendler zum Beispiel nicht mehr nach Luxemburg kommen könnten, bräche dort das Gesundheitswesen zusammen, warnte er im Deutschlandfunk.
Merkel mahnt zu einheitlichen Regeln
Eben diese Pendler in Grenzregionen sind aus Merkels Sicht jedoch entscheidend. Deutschland werde dazu beitragen, dass Pendler getestet werden könnten, sagte die CDU-Politikerin bei einer Pressekonferenz in Berlin. Dazu sei man auch mit den Herkunftsländern im Gespräch. Der freie Warenverkehr stehe nicht zur Debatte. Und es gehe nicht um flächendeckende Grenzkontrollen. "Ich sage Ihnen aber ganz offen: Wenn ein Land mit einer vielleicht doppelt so hohen Inzidenz wie Deutschland alle Geschäfte aufmacht, während sie bei uns noch geschlossen sind, dann hat man natürlich ein Problem."
Die Wirtschaft ist gegen nationale Alleingänge und fürchtet, dass wieder Waren an den Grenzen steckenbleiben - auch Medikamente oder Schutzgüter, wie BDI-Präsident Siegfried Russwurm sagte. Auch der belgische Premier Alexander De Croo will keine neuen Hürden für Lastwagen oder für Grenzpendler. Er brachte jedoch ins Spiel, touristische und andere nicht notwendige Reisen zu verbieten.
Viele Fragen zu Impfstoffauslieferung
Beim Impfen rumpelt es noch in vielen EU-Staaten. Beim Videogipfel habe es viele Fragen zur Transparenz und zu Lieferplänen für die verschiedenen Impfstoffe gegeben, berichtete der EU-Vertreter. Weil die Unternehmen Biontech und Pfizer kurzfristig weniger Impfstoff als geplant liefern können, wurden in Deutschland zum Teil Impftermine abgesagt.
Dennoch drängt die EU-Kommission die 27 Staaten zu ehrgeizigen Zielen. Bis zum Sommer sollen 70 Prozent der Erwachsenen in der EU gegen das Virus immunisiert sein, bis März bereits 80 Prozent der Menschen über 80 Jahre und des Pflege- und Gesundheitspersonals. Merkel äußerte sich zurückhaltend. Die Kanzlerin bekräftigte lediglich, dass man allen in Deutschland bis zum Ende des Sommers – also bis zum 21. September – ein Impfangebot machen wolle.
- Nachrichtenagenturen dpa, Reuters