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Großbritannien – Boris Johnson: Der gefährliche Tanz am Brexit-Abgrund


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Johnson gegen die EU
Der gefährliche Tanz am Brexit-Abgrund

Eine Analyse von Stefan Rook

Aktualisiert am 22.10.2020Lesedauer: 4 Min.
Der britische Premierminister Boris Johnson: Gibt es doch noch eine Chance auf ein Brexit-Handelspaket?Vergrößern des Bildes
Der britische Premierminister Boris Johnson: Gibt es doch noch eine Chance auf ein Brexit-Handelspaket? (Quelle: Kirsty Wigglesworth/ap)
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Boris Johnson gibt weiter den knallharten Verhandler. Letzte Woche erklärte er die Brexit-Verhandlungen für beendet, nun folgte die Kehrtwende. Einsicht oder Taktik?

"Politisches Theater" nannte der CSU-Europa-Abgeordnete Manfred Weber die Ansage von Boris Johnson, die Gespräche über das Brexit-Handelspaket abzubrechen. Als Theater muss man tatsächlich viel von dem einstufen, was sich derzeit zwischen der EU und London abspielt. Der britische Premierminister inszeniert sich mit seiner Strategie der Maximalforderungen gegenüber der EU als starker Mann – muss aber aufpassen, dass seine Drohungen nicht ins Leere laufen. Doch auch die EU wird Kompromisse eingehen müssen.

Ende letzter Woche erklärte Johnson die Verhandlungen mit der EU für beendet, wenn diese ihre Position nicht grundsätzlich überdenke. Ein Sprecher Johnsons wurde noch deutlicher: "Die Handelsgespräche sind vorbei. Die EU hat sie effektiv beendet." Sollte sich Brüssel nicht grundsätzlich bewegen, müsse sich das Team von Chef-Unterhändler Michel Barnier nicht die Mühe machen, nach London zu kommen.

Soweit das Theater. In der Realität verhandelten London und Brüssel selbstverständlich weiter, wenn auch zunächst nicht auf höchster Ebene – sie taten das auch, bevor Johnson am gestrigen Mittwoch offiziell erklärte, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Es gibt für beide Seiten keine Alternative zu einem Handelsabkommen – egal, ob das nun in diesem Jahr oder später etwas wird.

Australien und Kanada sind keine Vorbilder

Immer wieder redet Johnson von einem Handelsabkommen mit der EU nach dem Vorbild von Kanada oder auch Australien. Ersteres ist derzeit vollkommen unrealistisch, das Zweite nur eine Umschreibung für einen No-Deal-Brexit. Das CETA-Abkommen mit Kanada ist hochkomplex, die Verhandlungen dazu haben knapp sechs Jahre gedauert und es basiert auf ganz anderen politischen, wirtschaftlichen und geografischen Voraussetzungen als ein Abkommen mit Großbritannien. Und eigentlich will Johnson gar kein Kanada-Abkommen, denn in diesem gibt es keinen zollfreien Warenverkehr, den Johnson mit der EU aber unbedingt aushandeln will.

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Auch die Vereinbarungen der EU mit Australien taugen nicht als Vorbild für die künftigen Beziehungen zwischen Europa und Großbritannien. Es gibt kein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Australien. Beide Seiten haben lediglich Rahmenverträge für den Handel abgeschlossen, Zölle werden auch hier fällig. Wenn Johnson also von einem "Vertrag nach australischem Vorbild" spricht, ist das lediglich eine Umschreibung für den Zustand nach einem No-Deal-Brexit, in dem beide Seiten weitgehend nach den Richtlinien der Welthandelsorganisation (WTO) Waren austauschen.

Woran ein Deal hakt

Es gibt derzeit drei Knackpunkte: Da ist zum einen der Zugang für EU-Fischer zu britischen Gewässern – für die europäischen Küstenstaaten wie Frankreich ist das ein ebenso emotionales Thema wie für Großbritannien, das endlich alleine über seine reichen Fischgründe bestimmen will. Zweiter zentraler Punkt ist das sogenannte "Level Playing Field": Die EU will im Gegenzug für zollfreien Zugang zum Binnenmarkt gleiche Umwelt-, Sozial- und Beihilfestandards als Schutz vor Dumping. Doch Großbritannien will sich von der Union nicht mehr reinreden lassen und pocht auf seine staatliche Souveränität nach dem EU-Ausstieg. Das gilt auch für Punkt drei, die sogenannte "Governance": Die EU verlangt ein zuverlässiges Schlichtungsinstrument für den Fall, dass eine Seite vom Vertrag abweicht. Damit beißt sie in London bisher auf Granit. Allerdings hat sich Johnson bereit erklärt, seine Forderung nach vielen Einzelverträgen aufzugeben und über einen einzigen großen Vertrag zu verhandeln – wie von der EU gewünscht.

Bei den Fischereirechten hat Großbritannien nur scheinbar einen Trumpf in der Hand. Hintergrund ist ein Streit über Fangquoten für mehr als 100 Arten sowie die Frage, ob diese Quoten jährlich oder in längeren Zeitabschnitten ausgehandelt werden sollen. Ohne ein Abkommen mit Großbritannien würden EU-Fischer gar keinen Zugang mehr zu britischen Gewässern bekommen. Aber: Großbritannien exportiert derzeit rund 60 Prozent des in britischen Gewässern gefangenen Fischs in die EU. Sollten auf die Fänge Zölle fällig werden, könnte auch dieser Markt erheblich leiden oder sogar einbrechen.

Wie es weitergehen könnte

Finden die EU und Großbritannien zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zurück, bleiben noch rund drei Wochen, um ein Handelsabkommen abzuschließen. Das ist knapp, aber machbar, zumal beide Seiten ab sofort rund um die Uhr und auch an den Wochenenden verhandeln wollen. Barnier stellte in einer Rede am Mittwoch im Europaparlament klar: "Ich denke, ein Abkommen ist in Reichweite, wenn wir von beiden Seiten bereit sind, konstruktiv und im Geist des Kompromisses zu arbeiten. Unsere Tür bleibt offen bis zum letzten Tag, bis zum letzten Tag, an dem es noch etwas nützt."

Beharren beide Seiten auf ihren Maximalforderungen, kommt es tatsächlich zu einem Brexit, ohne dass die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien geklärt sind. Dann greifen die Regeln der WTO, die jedoch hohe Zölle für beide Seiten bedeuten.

Die EU soll für den Fall eines harten Brexits auch eine Notfallvariante prüfen. Der Handelsvertrag müsste demzufolge nicht unbedingt schon zum Jahresende unter Dach und Fach sein – notfalls würde nach einer kurzen ungeregelten Phase Anfang Januar ein Vertrag mit Verspätung in Kraft treten. "Es wird jetzt diskutiert, dass man für den Fall, dass eine Einigung etwa bis zum 10. November nicht gelingt, für ein paar Wochen zu Jahresanfang Chaos beim Brexit in Kauf nimmt und einfach weiterverhandelt", sagte ein mit den Gesprächen vertrauter hochrangiger EU-Diplomat.

Weniger Theater, mehr Realismus

Von britischer Seite war jedoch zu hören, dass man sich darauf nicht einlassen würde. Nach einem harten Brexit müssten zunächst einmal die WTO-Regeln eingeführt werden. Es sei so gut wie ausgeschlossen, dass Johnson während dieser Phase gleichzeitig Verhandlungen mit der EU über eine andere Lösung führen würde, hieß es aus britischen Diplomatenkreisen.

Es stehen damit drei entscheidende und hoch spannende Wochen bevor, in denen sich definitiv entscheiden wird, wie die EU und Großbritannien ab 2021 miteinander umgehen. Für diese Zeit kann man sich nur wünschen: Weniger Theater, mehr Realismus – auf beiden Seiten.

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