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Zum journalistischen Leitbild von t-online.EU-Ratspräsidentschaft Was Deutschlands Ziele sind und wo Probleme lauern könnten
Mitten in der Corona-Pandemie übernimmt Deutschland ab Juli die Ratspräsidentschaft der EU. Auf Kanzlerin Merkel warten neben der Corona-Krise weitere wichtige Baustellen. Ein Überblick.
Ab dem 1. Juli übernimmt Deutschland erstmals seit 13 Jahren wieder für sechs Monate die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist nach 2007 bereits das zweite Mal als vorderste EU-Krisenmanagerin gefordert. Und es könnten arbeitsintensive Monate auf die Kanzlerin zukommen. Denn nicht erst seit der Corona-Krise ist Europa in vielen Punkten zerstritten.
Bewältigung der Krise ist oberstes Ziel
In ihrer Regierungserklärung zur Ratspräsidentschaft rief Merkel am Donnerstag deswegen eindringlich zum Zusammenhalt des Staatenbündnisses auf: "Europa braucht uns, so wie wir Europa brauchen". Die Corona-Krise habe, so die Kanzlerin, offengelegt, wie fragil das europäische Projekt noch sei. Kein Land könne die Krise isoliert und allein bestehen. Deshalb sei gerade jetzt die Zeit einer engeren Zusammenarbeit in der EU gekommen.
Die Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Folgewirkungen bleiben dabei für Merkel oberste Prämisse: "Unser gemeinsames Ziel muss es jetzt sein, die Krise gemeinschaftlich, nachhaltig und mit Blick auf die Zukunft zu bewältigen". Europa solle "widerstandsfähiger und zukunftsfähiger" aus der Krise kommen. Dafür will Deutschland weitere wichtige Reformen voranbringen. In einem 24-seitigen Entwurf legte die Regierung bereits thematische Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft fest. Am Montag soll darüber im Bundeskabinett beraten werden.
t-online.de nennt fünf Ziele für die deutsche Ratspräsidentschaft und zeigt, wo Schwierigkeiten auftreten könnten.
1. Bewältigung der Corona-Krise und der EU-Haushalt
Die Corona-Pandemie hat die EU in eine dramatische Rezession geführt. Die Folgen für die Wirtschaft sind noch immer nicht genau abzuschätzen. Gleichzeitig sind die Mitgliedsstaaten zerstritten und weit entfernt von einer gemeinsamen Marschroute heraus aus der Krise. Insbesondere über die Finanzierung der Corona-Hilfen wird eine hitzige Debatte geführt.
Gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schlug Kanzlerin Merkel einen milliardenschweren Wiederaufbaufonds zur Bewältigung der Krise in Höhe von 500 Milliarden Euro vor, um den von der Krise am stärksten getroffenen Staaten zu helfen. Merkel verteidigte in ihrer Erklärung den Plan. Zudem könne er auch ein Mittel gegen Radikale und die Spaltung Europas sein: "Wir dürfen nicht naiv sein: Die antidemokratischen Kräfte, die radikalen, autoritären Bewegungen, warten ja nur auf ökonomische Krisen, um sie dann politisch zu missbrauchen".
Doch gegen den Plan regt sich Widerstand. Staaten wie Österreich oder Dänemark kritisieren das Vorhaben, weil das Geld für einen solchen Fonds in Form von nicht zurückzuzahlender Zuschüsse vergeben werden soll. Ein Alternativvorschlag kam von der EU-Komission, die ihrerseits einen kreditfinanzierten Wiederaufbauplan in Höhe von 750 Milliarden Euro präsentierte. Die Bundesregierung stellt sich derweil auf schwierige Verhandlungen ein – auch weil zudem noch über den mehrjährigen Finanzrahmen der EU bis 2027 verhandelt wird –, strebt aber eine möglichst schnelle Einigung noch vor der Sommerpause an, damit die geplanten Hilfen ab Januar 2021 ausgezahlt werden können.
2. Klimaschutz und Digitalisierung
Schon vor der Corona-Pandemie befand sich die Europäische Union in einem tiefgreifenden Umbruch, der durch die Krise noch weiter verstärkt wird. Die Digitalisierung und insbesondere der Klimawandel verändern das Zusammenleben fundamental und stellen das Staatenbündnis vor eine große Herausforderung. Kanzlerin Merkel betonte am Donnerstag, dass angesichts dessen die Antwort auf die Krise nicht lauten dürfe, wieder zu herkömmlichem Wirtschaften und Arbeiten zurückzukehren. Vielmehr wolle sich Deutschland als Ratspräsident dafür einsetzen, den Wandel in ein neues Arbeiten und Wirtschaften zu stärken und zu beschleunigen. Davon hänge es ab, ob es nach der Krise in Europa kreative und wettbewerbsfähige Unternehmen und nachhaltig gesicherte Arbeitsplätze gebe, sagte Merkel.
Gerade in der Klimapolitik besteht großer Handlungsbedarf. Die EU will bis 2050 klimaneutral werden. Der Weg dorthin soll über den im Dezember 2019 vorgestellten "Green Deal" führen. Das oberste Ziel: mehr Nachhaltigkeit. Doch während der Corona-Krise wurde die Umsetzung der ambitionierten Vorhaben erst einmal hintenangestellt. Auch die Ziele in der Digital-Politik sind hoch gesteckt. Binnen fünf Jahren soll Europa zur Digitalmacht aufsteigen, forderte die EU-Komission im Februar in einem Grundsatzpapier. 190 Milliarden Euro sollen dafür jährlich ausgegeben werden.
So ist es Aufgabe Deutschlands während seiner Ratspräsidentschaft, zu vermitteln, dass ökonomischer Aufschwung und Klimaschutz keine Gegensätze sein müssen. Es gilt den langfristigen strukturellen Wandel bei der Klima- und Digitalpolitik innerhalb der EU voranzutreiben und gleichzeitig der europäischen Wirtschaft und Millionen angeschlagener Unternehmen wieder auf die Beine zu helfen. Klimaforscher und Ökonomen sehen die aktuelle Krise gar als Chance, den Wandel noch schneller voranzutreiben. "Was vor der Coronakrise in der Klimapolitik richtig war, ist auch nach der Corona-Krise richtig" sagte etwa die Klima-Ökonomin Sonja Peterse der Deutschen Welle. Wichtig sei aber dabei, dass Hilfen für die Wirtschaft gleichzeitig den klimafreundlichen Umbau erleichtern sollten.
3. Flüchtlingspolitik
Eines der deutschen Vorhaben für die Ratspräsidentschaft betrifft den europäischen Umgang mit Asyl und Migration. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte unlängst angekündigt, eine Reform der europäischen Asylpolitik während der Ratspräsidentschaft vorantreiben zu wollen. "Ob bei der Seenotrettung, bei der Rückholung von Kindern aus Griechenland oder bei der Verteilung von Flüchtlingen – im Moment sind es immer nur wenige Staaten, die einspringen", kritisierte Seehofer die anderen Mitgliedsstaaten der EU. Er bekräftigte außerdem seine Forderungen, dass bereits an den EU-Außengrenzen geprüft werden solle, ob Einreisende asylberechtigt sind. Um dies umzusetzen, müsse zudem die europäische Grenzschutzbehörde Frontex "massiv" ausgebaut werden.
Die Umsetzung einer solchen Reform dürfte sich schwierig gestalten. Innerhalb der Union wird schon seit Jahren heftig über dieses Thema gestritten. Einige Staaten wie Ungarn, Österreich oder Polen weigern sich vehement dagegen, sich beispielsweise zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichten zu lassen. Auch außerhalb der EU stoßen die Reformpläne Seehofers auf Kritik. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl lehnt "Massenverfahren an den den Grenzen ab". Damit würde der Rechtsstaat an der EU-Außengrenze ausgehebelt werden. Doch in die Debatte könnte wieder Bewegung kommen: Die EU-Kommission will noch im Juni ihre Vorschläge für eine Asyl- und Migrationsreform vorlegen. Darüber sollen dann die EU-Staaten im europäischen Parlament verhandeln können.
4. Brexit
Auch der Brexit wird während der deutschen Ratspräsidentschaft weiter ein Thema bleiben. Zwar bekräftigte Angela Merkel in ihrer Erklärung, dass durch den Brexit der Zusammenhalt der verbliebenen EU-Staaten gestärkt wurde, doch sind die Probleme mit Großbritannien damit noch nicht bewältigt. Obgleich Großbritannien schon seit Ende Januar formal nicht mehr zur EU gehört, ist die Suche nach einem Handelsabkommen noch längst nicht abgeschlossen. Bis Ende des Jahres soll der Fahrplan für die künftigen Wirtschaftsbeziehungen stehen, doch inhaltlich sind sich Großbritannien und die EU noch nicht einig.
Sollten beide Parteien nicht übereinkommen, droht ein für Großbritannien vertragsloses Ende der Wirtschaftsbeziehungen zur EU. Die Mitgliedschaft Großbritanniens im EU-Binnenmarkt wäre aufgekündigt, Handelshemmnisse würden entstehen und strikte Grenzkontrollen müssten wieder eingeführt werden. Ein Aufschub der Frist könnte von Seiten der EU sogar noch vor der deutschen Ratspräsidentschaft bis Ende Juni bewilligt werden. Doch dagegen sträubt sich der britische Regierungschef Boris Johnson. So wird es auch Aufgabe Deutschlands sein, die Übergangsphase des Brexit zu moderieren und eine Einigung beider Seiten zu erzielen.
5. Gemeinsame Sicherheitspolitik
In Zeiten, in denen internationale Bündnisse wie die Nato schwächeln und gleichzeitig China wachsenden Einfluss in der Welt gewinnt, wird auch die gemeinsame Sicherheitspolitik immer wichtiger für die EU. "Corona hat uns in der Sicherheitspolitik keine Pause beschert", sagte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer erst kürzlich in einem Gespräch mit der Konrad-Adenauer-Stiftung. Stattdessen erfordere die Krise, zuvor bestehende Aufgaben weiter voranzutreiben.
In ihrem Entwurfspapier zur Ratspräsidentschaft hat auch die Regierung ihre Marschroute für sicherheitspolitische Fragen festgelegt. So heißt es in dem Entwurf, dass die USA weiterhin wichtigster außen- und sicherheitspolitischer Partner der EU seien. Doch die Beziehungen Europas zu den USA wurden erst kürzlich durch eine Entscheidung des Weißen Hauses belastet. Die USA planen, über 10.000 in Deutschland stationierte Soldaten abzuziehen. Ein Schritt der für viel Kritik und Unverständnis sorgte. Bundesaußenminister Heiko Maas forderte unlängst den Verbleib der US-Truppen und unterstrich deren Bedeutung für Europa: "Wir denken, dass die amerikanische Präsenz in Deutschland wichtig ist, nicht nur für die Sicherheit Deutschlands, sondern auch der Vereinigten Staaten aber auch insbesondere für die Sicherheit Europas insgesamt."
Auch die Beziehung zu China steht für Deutschland laut des Entwurfs im Mittelpunkt der sicherheitspolitischen Überlegungen. Gleichsam wird der Ton gegenüber Peking deutlicher: "Die China-Politik aller EU-Institutionen und Mitgliedstaaten soll geschlossen und ausgewogen sein und sich an den langfristigen gemeinsamen EU-Interessen und Werten ausrichten", heißt es in dem Papier. Der Hintergrund dafür ist die Debatte über eine deutliche Abgrenzung gegenüber der kommunistischen Regierung in Peking sowie der Forderung nach technologischer Unabhängigkeit. Zuletzt hatte auch das Vorgehen in Hongkong für Kritik gesorgt. Gleichzeitig will man aber verstärkt mit China bei Themen wie Klima, Gesundheit oder Afrika zusammenarbeiten. Eigentlich war für September ein EU-China-Gipfel in Leipzig geplant, bei dem über die Beziehungen der EU und China diskutiert werden sollte. Wegen der Corona-Krise wurde dieser jedoch abgesagt.
Auf Deutschland kommt in den kommenden Monaten die Aufgabe zu, die EU in sicherheitspolitischen Fragen zu einen und den Dialog mit sowohl den USA als auch China zu suchen. Die Spannungen zwischen beiden Staaten hatten sich in der Corona-Krise nochmals verschärft. So könnte es schwierig werden, einen eigenen europäischen Kurs gegenüber beiden Staaten zu finden, da die USA ihrerseits versuchen, Europa von einem harten Kurs gegenüber Peking zu überzeugen, die EU aber auf Dialog setzt. Auch die zuletzt impulsive und unvorhersehbare Politik des US-Präsidenten könnte das Vorhaben zusätzlich erschweren.
- Eigene Recherchen
- "Handelsblatt.de": "Plan der EU-Kommission: So soll die EU binnen fünf Jahren zur Digitalmacht werden"
- "Merkur.de": "Asyl-Streit: Plötzlich Bewegung in der EU? Aufwind für Seehofers Plan"
- "Tagesschau.de": "Seehofer will Asylsystem reformieren"
- "Deutsche Welle": "Corona und Klima: Zusammen aus der Krise?"
- "Neue Züricher Zeitung": "Der Brexit geht wieder in die heiße Phase - aber diesmal ist es schlimmer"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters