Uneinigkeit nach Europawahl Personalpoker in Brüssel – wer besetzt die Spitzenposten?
Mehr als ein Monat ist seit der Europawahl vergangen – die Spitzenposten konnten bisher nicht besetzt werden. Das soll sich am Sonntag auf einem Sondergipfel ändern. Manfred Webers Chancen gehen gegen Null.
Ein EU-Sondergipfel am Sonntag soll den Durchbruch bei der Vergabe von fünf europäischen Spitzenposten bringen. Im Zentrum steht die Nachfolge von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Zudem geht des um die Ämter des EU-Ratspräsidenten, des Außenbeauftragten, des Parlamentspräsidenten und des Chefs der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Szenarien in dem komplexen Personalpoker sind ebenso vielfältig wie ungewiss.
Die Ausgangslage:
Vergangene Woche sind die EU-Staats- und Regierungschefs bereits einmal an dem Personalpaket gescheitert. Es muss möglichst ausgewogen nach Parteienproporz, Geschlechterverteilung sowie regionale Herkunft ausfallen. Ein vom Gipfel vorgeschlagener Juncker-Nachfolger braucht darüber hinaus eine Mehrheit im EU-Parlament. Dort pochen Konservative und Sozialdemokraten als stärkste und zweitstärkste Fraktionen weiter darauf, dass nur ein Spitzenkandidat bei der Europawahl Kommissionschef werden kann.
Szenario eins wird immer unwahrscheinlicher: Merkel setzt Weber durch – Franzosen bekommen die EZB
Dieses Szenario gilt nach Berichten vom Freitagabend als unwahrscheinlich: Die im japanischen Osaka beim G 20-Gipfel anwesenden EU-Regierungschefs haben sich nach einem Medienbericht darauf geeinigt, dass EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber nicht neuer Präsident der Europäischen Kommission werden soll. Dies sei am Freitagnachmittag unter Leitung von EU-Ratspräsident Donald Tusk und nach Rücksprache mit den jeweiligen Vorsitzenden der europäischen Parteienfamilien beschlossen worden, berichtete die "Welt am Sonntag" unter Berufung auf informierte Kreise vorab. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe die Entscheidung akzeptiert.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) müsste – sollten die Gerüchte sich nicht bestätigen – hart kämpfen, damit der konservative Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) den Kommissionsposten noch bekommt. Grund ist der massive Widerstand von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und anderer Regierungschefs aus dem liberalen Lager. Macron hält Weber wegen fehlender Regierungserfahrung schon fachlich nicht für geeignet. Merkel könnte Paris den Posten des EZB-Chefs anbieten. Ob das Macron noch umstimmen kann, ist aber äußerst fraglich.
Szenario zwei: Weber gibt auf und überlässt Timmermans das Feld
Unabhängig von den Gerüchten, man habe sich in Osaka gegen Weber entschieden, diskutierte die konservative Europäische Volkspartei (EVP), der Weber angehört, nach AFP-Informationen zuletzt ein Szenario, in dem der sozialdemokratische Spitzenkandidat Frans Timmermans Kommissionschef wird. Als "Trostpflaster" für Weber bliebe der Posten des EU-Parlamentspräsidenten für fünf Jahre, also gleich zwei Amtszeiten. Zudem würde die EVP das Amt des EU-Ratspräsidenten beanspruchen. Macrons Liberale als drittstärkste Fraktion erhielten den Posten des EU-Außenbeauftragten und womöglich die EZB.
Szenario drei: Der Gipfel schlägt Vestager vor
Die Liberale Margrethe Vestager gilt als mögliche Präferenz Macrons. Mit der auch von Merkel gelobten dänischen Wettbewerbskommissarin bekäme erstmals eine Frau den Kommissionsposten. Vestager kann zudem noch als "halbe" Spitzenkandidatin durchgehen, da sie Teil eines Wahl-"Spitzenteams" der Liberalen war. Doch die Sozialdemokraten fordern für diese Variante den Posten des EU-Ratspräsidenten, wie es von Verhandlungsführern heißt. Dann bliebe für die EVP aber keiner der beiden Spitzenposten in Rat und Kommission.
Szenario vier: Barnier als Kommissionschef – Deutschland bekommt die EZB
Blockieren sich die Spitzenkandidaten gegenseitig, könnte Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier als Juncker-Nachfolger ins Spiel kommen. Mit dem Konservativen bekäme jedoch ein Franzose den Kommissionsjob, den eigentlich der Deutsche Weber übernehmen sollte. Dies wäre wohl nur möglich, wenn Deutschland im Gegenzug den EZB-Chefposten erhält, etwa für Bundesbank-Präsident Jens Weidmann.
Szenario fünf: Viele weitere Namen mit ungewissen Erfolgsaussichten
In Brüssel kursieren viele weitere Namen, die notfalls eine Lösung bringen sollen. Im Gespräch sind unter anderem Irlands Regierungschef Leo Varadkar, Litauens scheidende Präsidentin Dalia Grybauskaite, der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte oder Weltbank-Geschäftsführerin Kristalina Georgieva. Offiziell beworben hat sich bisher niemand - wohl auch wegen der äußerst ungewissen Erfolgsaussichten.
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Szenario sechs: Der Gipfel kann sich nicht einigen
Scheitert der Gipfel erneut, wäre zunächst das Parlament am Zug. Es will am Mittwoch seinen Präsidenten wählen. Damit wäre einer der fünf Topjobs vergeben. Die Partei, die ihn bekommt, hätte keine oder geringere Ansprüche auf die anderen Spitzenposten. Die Staats- und Regierungschefs müssten danach erneut zu einem Sondergipfel zusammenkommen, um sich auf die Vergabe der anderen Ämter zu einigen.
- Nachrichtenagenturen AFP, Reuters