Ernüchterte Spitzenkandidaten Das Geschacher um die Juncker-Nachfolge hat begonnen
Christ- und Sozialdemokraten haben bei der Europawahl heftig verloren. Beide pochen dennoch auf ihren Führungsanspruch in der EU. Und in Paris sitzt einer mit einer ganz eigenen Agenda.
Wer wird Nachfolger von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker? Am Tag nach der Europawahl begannen die Parteien im EU-Parlament am Montag mit Sondierungen zur Bildung von Allianzen. Das Wahlergebnis macht Mehrheiten für die Kandidaten schwierig. Und bereits am Dienstagabend tagen die EU-Staats- und Regierungschefs, die bei einer Blockade im Europaparlament das Heft des Handelns an sich reißen könnten.
In den ersten Stunden nach der Wahl bekräftigten Konservative wie Sozialdemokraten als stärkste Fraktionen im neuen EU-Parlament noch klar ihren Anspruch auf die Juncker-Nachfolge. Doch in der Nacht zeigten sich die Spitzenkandidaten der Parteifamilien dann schon vorsichtiger.
Weber: Kein wirklich mächtiger Sieg
Angesichts des Verlustes von fast einem Fünftel der EVP-Mandate räumte der CSU-Politiker Manfred Weber ein, dies sei kein "wirklich mächtiger Sieg". Er zeigte sich offen für Beiträge der anderen Fraktionen – auch in der Personalfrage.
"Wir müssen bescheiden sein", sagte der sozialdemokratische Spitzenkandidat Frans Timmermans, dessen Fraktion ebenfalls ein Fünftel der Mandate verlor. Der bisherige erste Vize-Präsident der EU-Kommission wollte dann nicht einmal das Wort "Anspruch" mit Blick auf die Juncker-Nachfolge in den Mund nehmen. Er wolle zunächst über Inhalte reden, sagte er. Erst dann beginne für ihn das "Game of Thrones" in Sachen Personalien.
Doch Timmermans Träume von einer "Regenbogen"-Koalition gegen Webers EVP sind zerplatzt. Auch zusammen mit Grünen, Liberalen und Linken kämen die Sozialdemokraten im Europaparlament nicht auf die nötige Mehrheit von 376 der 751 Abgeordneten, um den Niederländer zum Kommissionspräsidenten zu küren.
- Kommentar: Jetzt rechnet eine ganze Generation mit der Union ab
- Newsblog: Die Europawahl 2019 im Überblick
- Neue Großstadtpartei: Grüne gewinnen die acht größten Städte
- Analyse: SPD – eine Partei liegt in Trümmern
Weber bekommt hingegen massiven Gegenwind aus Frankreich. Präsident Emmanuel Macron hält den Bayern, der noch nie ein Regierungsamt innehatte, für zu leichtgewichtig. Für den Posten sei "Erfahrung auf höchstem Niveau von Regierungen oder in der Europäischen Kommission unbestreitbar ein wichtiges Kriterium", sagte er vergangene Woche der belgischen Zeitung "Le Soir".
Macron will sich andere Optionen offenhalten
Macron ist zudem grundsätzlich gegen das erstmals 2014 mit Juncker erprobte Modell, dass nur ein Spitzenkandidat Kommissionschef werden kann. Erst im vergangenen Jahr haben alle Staats- und Regierungschefs nochmals bekräftigt, dass es in der Frage "keinen Automatismus" gibt und sie sich auch die Option offenhalten, andere Bewerber vorzuschlagen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist gleichfalls kein Fan des Spitzenkandidatenmodells. Sie unterstützte im Wahlkampf zwar offiziell Weber, scheint aber notfalls auch für andere Optionen offen.
Vestager könnte profitieren
Hier könnte im schwierigen Personalpoker neben dem aus Frankreich stammenden Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier auch EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager ins Spiel kommen. Ihre Liberalen haben zwar keinen Spitzenkandidaten aufgestellt, die Dänin ist aber Teil eines "Spitzenteams". Und mit Macrons Partei La République en Marche haben die europäischen Liberalen nun deutlichen Zuwachs bekommen und sind drittstärkste Kraft im Parlament.
Allerdings ginge es im EU-Parlament rechnerisch auch ohne Macron und die Liberalen. EVP, Sozialdemokraten und Grüne kämen auf genug Stimmen, um einen Kommissionspräsidenten zu küren.
Weitere wichtige Entscheidungen stehen an
Für alle Fraktionen im Europaparlament, die hinter dem Spitzenkandidatenkonzept stehen, tickt nun die Uhr. Schon am Dienstagabend kommen die EU-Staats- und Regierungschefs zu einem Sondergipfel nach der Wahl zusammen. Blockieren sich die Parlamentsparteien gegenseitig und können sich bis dahin nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, haben die Staats- und Regierungschefs erst einmal freie Bahn.
- Sechs Erkenntnisse: Wo die radikale Rechte gewinnt und wo nicht
- Europawahl kompakt: Das Wichtigste in drei Minuten erklärt
- Europawahl 2019: Rechtsextreme legen zu – Verluste bei den Volksparteien
Und sie sollen im Juni auch über weitere wichtige Personalien, wie die Nachfolge für EU-Ratspräsident Donald Tusk und von EZB-Präsident Mario Draghi, entscheiden. Die Juncker-Nachfolge ist dabei nur ein Element in einem großen Interessenausgleich zwischen den nationalen Regierungen, um in der EU ein neues Machtgefüge für die kommenden Jahre zu finden.
- Nachrichtenagenturen AFP, dpa