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EU-Abgeordnete Birgit Sippel im Interview: "Das ist egoistisches Elitenversagen"


Europaabgeordnete Birgit Sippel zum Asylstreit
"Das ist egoistisches Elitenversagen"

t-online, Peter Riesbeck

28.06.2018Lesedauer: 4 Min.
Birgit Sippel: Die SPD-Europaabgeordnete glaubt, dass eine Einigung im Asylstreit auf EU-Ebene möglich istVergrößern des Bildes
Birgit Sippel: Die SPD-Europaabgeordnete glaubt, dass eine Einigung im Asylstreit auf EU-Ebene möglich ist. (Quelle: dpa |)

Heute beginnt der EU-Gipfel, der über Merkels Kanzlerschaft entscheiden dürfte. Welche Chancen auf eine Einigung gibt es? Ein Gespräch mit der SPD-Europaabgeordneten Birgit Sippel.

Die Staats- und Regierungschef der 28 EU-Länder ringen ab heute um Lösungen im Dauerstreit über die Flüchtlingspolitik. Überschattet wird das zweitägige Treffen in Brüssel von der Regierungskrise in Deutschland.

Kanzlerin Angela Merkel steht wegen des Asylkonflikts mit dem Koalitionspartner CSU unter großem Druck. Die CSU will bestimmte Flüchtlinge an der Grenze abweisen und stellt Merkel ein Ultimatum bis Anfang Juli für eine Lösung. Die Kanzlerin strebt zwischenstaatliche Verträge mit anderen EU-Ländern über die Rücknahme von Flüchtlingen an. Dabei geht es in erster Linie um Migranten, die in einem anderen EU-Land zuerst registriert waren und dann nach Deutschland weiter gezogen sind.

Birgit Sippel ist seit 2009 Europaabgeordnete. Im Europaparlament befasst sie sich mit innenpolitischen Themen wie dem Asylrecht und Migration. Im Interview spricht sie über Merkels Schicksals-Gipfel, die Chancen auf eine europäische Lösung im Asylstreit und die CSU-Politik des "Bayern only".

t-online.de: Frau Sippel, Europa steht vor einem entscheidenden Gipfel, ebenso wie die Bundeskanzlerin, Sie braucht eine europäische Einigung in der Flüchtlingspolitik. Dazu gehören Rückführungsabkommen, Frankreich hat ein solches mit Italien, aber beide Länder haben eine gemeinsame Grenze. Ist ein Abkommen Deutschlands mit Italien mit EU-Recht überhaupt vereinbar?

Birgit Sippel: Eine solche Rückführung ist auf Dauer keine Lösung. Selbst, wenn wir dazu kommen, dass die Registrierung von Asylbewerbern in Italien, Griechenland und Bulgarien besser gelingt als bisher, bleibt die Frage: Nach welchem Schlüssel sollen die Flüchtlinge auf die EU-Staaten verteilt werden? Diese Frage müssen die Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel zuerst beantworten, sonst kommen sie in der Frage nicht voran. Wir können die Verantwortung für Schutzsuchende Menschen nicht auf einige wenige Staaten abschieben. Das vielzitierte bilaterale Abkommen zwischen Frankreich und Italien regelt lediglich den Informationsaustausch zwischen Grenzbeamten - nicht die Frage der Zuständigkeit. Im Gegenteil - an der französischen italienischen Grenze herrscht derzeit ein Kleinkrieg zwischen den Grenzpolizisten darüber, wer die Flüchtlinge aufnimmt.

Ein weiterer Punkt in der Debatte sind Asylzentren, etwa in Nordafrika, der Völkerrechtler Christian Tomuschat hat da erhebliche Bedenken. Wie ist Ihre Einschätzung?

Solche Auffanglager sind doppelt unredlich. Zum einen verkennt es die Tatsache, dass die weitaus meisten Flüchtlinge bereits in anderen Ländern leben, syrische Bürgerkriegsflüchtlinge etwa im Libanon und Jordanien, Flüchtende aus Libyen im Niger. Dazu kommt ein rechtliches Problem: Wer soll die Asylverfahren in diesen Auffanglagern durchführen? Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR könnte lediglich eine Vorprüfung durchführen. Wer das eigentliche Verfahren führt, wo geklagt wird, ist völlig offen. Das ist ein Outsourcen von Verantwortung. Dazu kommt: Die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten bleibt weiter offen. Das bei uns verankerte Grundrecht auf Asyl würde damit zu einer hohlen Floskel werden.

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Und wie würde es sich mit Asylzentren in Europa verhalten, etwa im Nicht-EU-Mitglied Albanien?

Die Bedenken sind die gleichen: Wer soll die Asylverfahren denn in Albanien durchführen und was geschieht dann mit den Menschen? Ich halte das ganze Verfahren aber für unredlich, weil zwei Dinge miteinander verknüpft werden: Eine mögliche Aufnahme Albaniens in die EU und die Flüchtlingspolitik. Wir lagern hier ein Problem aus. Europa muss die Verteilung der Flüchtlinge schon selbst regeln. Um diese Kernfrage können sich die EU-Staaten nicht drücken.

Am vergangenen Sonntag haben 16 EU-Staaten schon mal vorab Einigungschancen ausgelotet. Könnte es sein, dass diese "Koalition der Willigen" Schengen – also das kontrollfreie Reisen – nutzt, um Staaten wie Ungarn unter Druck zu setzen? Ungarns Zuliefererindustrie für die Autoproduktion etwa würde unter Kontrollen an Binnengrenzen extrem leiden.

Diese Punkte wurden nach meinem Kenntnisstand unter den 16 EU-Staaten bisher noch nicht besprochen. Zurecht, denn jedes Land würde unter Grenzschließungen leiden. Es ist naiv und leichtfertig zu glauben, dass ein Wettrüsten an den Grenzen gezielt einige wenige - wie Flüchtlinge oder die ungarischen Zulieferindustrie - adressieren kann. Was Herr Seehofer jedoch verschweigt – Bürger, Berufspendler zwischen Mitgliedsstaaten, Handwerker und unsere Wirtschaft insgesamt werden davon genauso betroffen sein. Die europäische Freizügigkeit ist eine historische Errungenschaft und kein Ramschartikel der fahrlässig verspielt werden kann um Landtagswahlen zu gewinnen.

Wie sehen Sie die Einigungschancen generell?

Ich sehe durchaus realistische Chancen, sich im Kreis der willigen Länder im Rahmen einer Zusammenarbeit vieler EU-Staaten auf ein gemeinsames Vorgehen zu verständigen. Über die Konsequenzen für die Blockierer müssen wir dann aber auch nachdenken– die Kommission hat ja bereits über finanzielle Anreize für Aufnahmeländer oder Kürzungen für weniger Willige nachgedacht. Dauerhafte Grenzkontrollen im Schengen-Raum sind aber schmerzlich, Europa als grenzenloser Raum ist nicht nur für viele Grenzpendler eine riesige Erleichterung, auch mancher regionale Konflikt wurde da entschärft, wenn wir etwa nach Südtirol oder Irland schauen.

Und ein Wort zur CSU, wie wird die Politik des "Bayern Only" in Brüssel wahrgenommen?

Ich halte es insgesamt für bedenklich, dass Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mittlerweile mit denselben Argumenten hantiert wie Viktor Orban. Noch bedenklicher aber ist etwas, was wir bereits in der Brexit-Debatte gesehen haben, etwa im Fall Boris Johnsons. Aus reinem parteitaktischen Kalkül wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen. Söder handelt ähnlich. Und er treibt ein gefährliches Spiel, weil er die Wähler in die Arme der AfD treibt und nicht mehr weiß, wie er verbal abrüsten kann. Die Zahlen sagen nämlich etwas ganz anderes: Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sinkt rapide.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Sippel.

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