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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Migrationsdebatte Experte: "Das ist für unsere Demokratie gefährlich"
Die Herausforderung für Kommunen ist gewachsen, sagt Migrationsforscher Marcus Engler. Das Problem sieht er aber nicht bei fehlendem Raum.
In Deutschland ist die Debatte um Migration voll entbrannt. Die Union fordert Obergrenzen für Geflüchtete, Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat am Mittwoch mehr Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien angeordnet, und die Kommunen beklagen den hohen Druck durch viele Geflüchtete.
"Wir schaffen das, wenn wir aufhören zu streiten", sagt Migrationsforscher Marcus Engler. Im Gespräch mit t-online erklärt er, wie er zu dieser Überzeugung gekommen ist, warum die Asylreform der EU keine Wunder vollbringen wird und wie er die verschiedenen Forderungen der Parteien einschätzt.
Herr Engler, Deutschland diskutiert über den Umgang mit Geflüchteten. Viele sagen: "Wir schaffen das nicht." Stimmt das?
Nein. Ich bin weiter fest überzeugt, dass wir das schaffen. Nur müssten wir dafür aufhören zu streiten. Ja, die Situation ist herausfordernd, aber nicht überfordernd. Wir müssen die Herausforderungen nur richtig angehen.
- Kommentar: Immer mehr Flüchtlinge – Wir haben es nicht geschafft
Was macht Sie da so optimistisch?
Deutschland ist ein großes und trotz ökonomischer Krisen auch ein reiches Land. Grundsätzlich also sind wir gut vorbereitet, um viele Menschen aufzunehmen. Und wir sind eine alternde Gesellschaft und brauchen Arbeitskräfte. Problematisch ist, dass in der Politik immer wieder in sehr negativer Weise über Fragen von Flucht und Migration gestritten, aber keine Lösungen gefunden werden.
Innenministerin Nancy Faeser hat gerade eine Lösung vorgeschlagen: Mehr Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien, um gegen Schleuser vorzugehen. Was halten Sie davon?
Das ist sehr viel Symbolpolitik. Es geht vor allem darum, den Eindruck zu erwecken, dass Politik etwas tut. Kurzfristig kann das dazu führen, dass etwas weniger Menschen über eine bestimmte Route kommen. Mittelfristig wird es aber nichts bringen, die vorhandenen Grenzkontrollen noch weiter hochzufahren.
Warum?
Weil die Flüchtenden dann auf andere Wege ausweichen, die teils noch gefährlicher sind – beispielsweise Flüsse, die sie dann überqueren. Deutschland hat sehr lange Grenzen, in Gänze können wir die nicht wirklich kontrollieren. Hinzu kommt: Selbst Polizeigewerkschafter sagen immer wieder, dass sie dafür nicht genügend Personal haben und dass stationäre Grenzkontrollen auch nicht möglich seien.
In der Konsequenz hieße das: Es kommen auch weiterhin viele Menschen bei uns an – und die Kommunen geraten weiter unter Druck. Sind die tatsächlich so stark überlastet?
Der Zuzug von vielen Geflüchteten ist natürlich eine Herausforderung, die in den letzten Monaten gewachsen ist. Vielerorts ist das Aufnahmesystem in seiner aktuellen Form nicht auf so viele Menschen ausgelegt. Aber das Argument, dass wir in Deutschland keinen Raum mehr haben, stimmt so pauschal nicht. Wir haben viele leerstehende Gebäude. Es gibt zahlreiche Orte, in denen kein einziger Flüchtling lebt. Die größere Herausforderung ist das fehlende Personal.
Dr. Marcus Engler ist Sozialwissenschaftler und forscht seit September 2020 am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Er befasst sich intensiv mit Flucht- und Migrationsbewegungen und mit deutscher, europäischer und globaler Migrationspolitik.
Das heißt, es liegt nicht allein daran, dass mehr geflüchtete Menschen kommen?
Genau. Insgesamt sind unsere staatlichen Strukturen ohnehin schon an der Belastungsgrenze: In vielen Orten Deutschlands haben wir beispielsweise marode Schulen, es fehlen Lehrer und Erzieher. Für mich ist klar: Der Staat muss deutlich mehr investieren. Aber das will vor allem das FDP-geführte Finanzministerium derzeit nicht.
Und wo sollte dieses Geld am besten landen?
Natürlich bräuchten es derzeit vor allem die Kommunen. Aber mehr Geld allein ist auch nicht ausreichend.
Sondern?
Bürokratische Prozesse müssten vereinfacht werden, wir müssen in der Digitalisierung schneller werden. Zudem ist das Asylrecht in den vergangenen Jahren immer komplizierter geworden – eine Vereinfachung, wie sie im Koalitionsvertrag vorgesehen ist, würde definitiv auch helfen. Aber da passiert aktuell eher das Gegenteil. Und dann muss auch das Verteilungssystem in Deutschland verbessert werden: Es müssten sich einfach alle Kommunen beteiligen, und zusätzlich gibt es Projekte zur passgenauen Verteilung von Geflüchteten.
Ist es mit solchen politischen Maßnahmen getan?
Nein, aber es ist ein Anfang. Gleichzeitig müssen wir als Gesellschaft auch bereit sein, das Nötige beizutragen. Als die Menschen im vergangenen Jahr aus der Ukraine geflohen sind – und auch im Jahr 2015 – haben wir eine sehr große Hilfsbereitschaft erlebt und sehen sie auch jetzt noch. Da haben einzelne Bürgerinnen und Bürger Menschen bei sich zu Hause aufgenommen. Von so einem Engagement hängt es auch ab.
Und wie lässt sich eine solche Einstellung fördern?
Vor allem durch gute Kommunikation, auch seitens der Politik. Ich würde mir wünschen, dass Politikerinnen und Politiker viel öfter die großen Zusammenhänge erklären. Die Regierung muss deutlicher machen, warum Entscheidungen getroffen werden und welche Alternativen es gibt. Wichtig ist dabei auch ein anderes Narrativ.
Wie meinen Sie das?
Dass die AfD das Thema für sich so instrumentalisiert, dürfte niemanden überraschen. Viel erschreckender ist aber das Verhalten der Unionsparteien. Da gibt es teilweise kaum noch Unterschiede zu den Positionen der AfD. Das ist auch für unsere Demokratie gefährlich. Flüchtlinge und Migranten werden hier nur noch als Belastung oder Bedrohung dargestellt. Das hat auch Auswirkungen auf das Zusammenleben in diversen Gesellschaften.
Die Union forderte zuletzt eine Obergrenze für Geflüchtete. Wie sinnvoll wäre das?
Eine Obergrenze funktioniert nicht. Die meisten Juristen sagen, dass sie mit deutschem und europäischem Recht nicht vereinbar ist. Und selbst wenn wir, wie es einige fordern, das Grundgesetz ändern würden, gibt es noch immer die Genfer Flüchtlingskonvention. In der ist eine solche Obergrenze nicht vorgesehen. Hinzu kämen ganz praktische Fragen: Sollten wir dann ab einer gewissen Zahl keine Menschen mehr ins Land lassen? Was würde mit ihnen passieren? Dafür gibt es gar keine Verfahren.
Warum kommen diese Rufe jetzt?
Eigentlich hören wir das seit Monaten. Die Motivation der Union ist momentan vermutlich, bei den anstehenden Wahlen erfolgreich zu sein, und tatsächlich sind sie ja auch die stärkste Partei. Nur profitiert eben auch die AfD von dieser Art der Debatte – und sogar mehr als die Unionsparteien. Die Ampelparteien haben es weitgehend aufgegeben, eine eigene Vision in der Asylpolitik zu entwickeln und umzusetzen.
Ebenfalls im Raum stehen mehr Abkommen mit anderen Staaten. Was könnten die bringen?
Das sind keine Wunderwerkzeuge, aber grundsätzlich benötigen wir sie. Der Inhalt ist da allerdings entscheidend – und: Sie müssen auch immer wieder neu ausgehandelt werden. Wichtig ist in dem Zuge vor allem, dass keine Abstriche bei Menschenrechten gemacht werden.
Kein leichtes Unterfangen, wenn man mit autoritären Staaten verhandelt.
Richtig. Aber auch dann dürfen wir unsere Standards nicht absenken. Und dann müssen die Interessen der anderen Staaten ernsthaft berücksichtigt werden – was können Staaten wie Tunesien oder die Türkei wirklich leisten in der Aufnahme von Geflüchteten? Dabei müssen die Bedürfnisse der Menschen im Fokus stehen und weniger die der meist autoritären Regierungen.
Eine weitere Idee ist, das Berufsverbot für Asylbewerberinnen und -bewerber aufzuheben. Könnte das nicht für finanzielle Entlastungen beim Staat sorgen und zugleich sogar den Fachkräftemangel bekämpfen?
Absolut, wir brauchen Arbeitskräfte. Menschen, die aus Mangel an Alternativen den "falschen" Weg nach Deutschland genommen haben, aus ideologischen Gründen von der Arbeit auszuschließen, ergibt ökonomisch betrachtet keinen Sinn. Das Anwerben von Arbeitskräften ist aufwendig, und wir sollten die Möglichkeiten für Menschen öffnen, die schon hier sind und arbeiten wollen, das auch zu können.
Viele der Dinge, die wir gerade besprochen haben, dienten dazu, dass weniger Menschen in die EU kämen. Wie sehr löst sich dadurch das Problem?
Das ist eine sehr kurzfristige Politik. Menschen mit starken Migrationsmotiven, wie dem der Flucht oder dem Nachzug zu Familienangehörigen, lassen sich nicht aufhalten – auch nicht mit hoch militarisierten Grenzen. Das Geld, das bei den Aufnahmestrukturen fehlt, steckt eigentlich in Grenzzäunen, Abfangbooten und Waffen.
Wie meinen Sie das?
Es wird regelmäßig der Eindruck erweckt, dass die EU-Außengrenzen nicht geschützt seien und deswegen die nationalen Grenzen geschützt werden müssten. Das stimmt aber nicht. Die EU-Außengrenzen sind bereits hoch militarisiert. An den Seegrenzen werden Boote teils abgedrängt – wenn man sich an das Schiffsunglück in Griechenland erinnert. Da sind wir auch jetzt schon weit entfernt von den eigentlichen europäischen Werten und vom europäischen Recht. Abschottung kann nicht funktionieren. Wir brauchen Lösungen für Menschen auf der Flucht.
Wie optimistisch sind Sie, dass Lösungen auf dieser europäischen Ebene gefunden werden?
Von der Asylreform der EU erwarte ich keine Wunder. Die Herausforderungen, die wir haben, werden sich dadurch nicht grundlegend verändern, und es werden sich auch weiterhin bestimmte Staaten nicht an der Verteilung von Geflüchteten beteiligen und Recht brechen. Die Herausforderungen in der Flüchtlings- und Migrationspolitik werden angesichts von Klimawandel und Konflikten global gesehen nicht geringer werden. Daher brauchen wir ein viel besser ausgestattetes globales Flüchtlingsregime, inklusive der finanziellen Stärkung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR.
Herr Engler, vielen Dank für das Gespräch!
- Telefoninterview mit Marcus Engler