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Braunkohletagebau Garzweiler: Das "Krebsgeschwür" von Lützerath


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Zerstörte Dörfer
So dramatisch ist der Kohleabbau für die Menschen


21.10.2021Lesedauer: 8 Min.
Eckardt Heukamp: Der Landwirt klagt gegen RWE: "Es darf doch nicht sein, dass RWE mein Zuhause abreißen darf, noch bevor die Gerichte in letzter Instanz geklärt haben, ob man heutzutage überhaupt noch Menschen für den Abbau klimaschädlicher Braunkohle enteignen darf."Vergrößern des Bildes
Eckardt Heukamp: Der Landwirt klagt gegen RWE: "Es darf doch nicht sein, dass RWE mein Zuhause abreißen darf, noch bevor die Gerichte in letzter Instanz geklärt haben, ob man heutzutage überhaupt noch Menschen für den Abbau klimaschädlicher Braunkohle enteignen darf." (Quelle: Axel König)
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Die Frage nach dem Kohle-Ausstieg ist entscheidend für das Klima – aber auch für die Tagebauregionen. Denn dort werden noch immer Dörfer für die Kohle zerstört. Mit schweren Folgen für die Menschen

Nichts ist übrig geblieben. Petra Schumann blickt durch einen Bauzaun auf ein zugewuchertes Grundstück. Einst stand dort ihr Elternhaus, ein zweistöckiges Gebäude, wie es in dieser Gegend südlich von Mönchengladbach üblich ist. "Den ersten Freund habe ich hier mit hingeschleppt, auch den zweiten", sagt sie.

Doch weder ihr Jugendzimmer noch das Wohnzimmer ist noch da. Der Kamin, an dem sich Schumann als Kind gewärmt hat – alles ist weg. Raum für Raum rissen Bagger im vergangenen Jahr das Haus ab, das ihre Eltern eigenhändig renoviert hatten. Eine Woche dauerte das, Schumann hat der Zerstörung an jedem Tag zugesehen. "Ich hatte das Gefühl, ich muss dabei sein. So wie man einen Sterbenden auf dem Sterbebett begleitet", sagt sie heute. Ihre Augen werden dabei glasig.

Die Erinnerung an ihre alte Heimat Immerath macht Petra Schumann traurig und wütend. Der Grund für den Abriss ihres Elternhauses: der Braunkohletagebau Garzweiler II, betrieben vom Energiekonzern RWE.

Meter für Meter, Jahr für Jahr hatten sich RWE-Bagger immer näher an das Haus herangegraben, gierig nach der Kohle im Boden unter den Dörfern im westlichen Nordrhein-Westfalen. Zahlreiche Orte fielen den großen Schaufelrädern bereits zum Opfer, nun soll auch Immerath weichen, damit dem nahegelegenen Braunkohlekraftwerk Neurath nicht der Brennstoff ausgeht. Die riesigen Stahlkolosse des Tagebaus sind bereits am Horizont zu sehen, die alten Häuser nicht mehr.

Rettet ein früherer Kohleausstieg die Dörfer?

Nach derzeitigem Stand endet die Kohleverstromung in Deutschland 2038. Bis dahin werden schrittweise Kraftwerke und Tagebaugebiete stillgelegt. Doch bis dahin verschwinden auch weiter ganze Dörfer für die Braunkohle. Allein in Nordrhein-Westfalen sollen es in den kommenden Jahren weitere sechs sein, in den anderen Tagebauregionen wie etwa der Lausitz sind ebenfalls Umsiedlungen geplant.

Zwar hat die Ampelkoalition von SPD, Grüne und FDP in ihrem Sondierungspapier nun einen früheren Ausstieg angedeutet. "Zur Einhaltung der Klimaschutzziele ist auch ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung nötig. Idealerweise gelingt das schon bis 2030", heißt es in dem Papier. Dieser Schritt sei wichtig für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels des Pariser Klimaabkommens. Doch gesichert ist der frühere Ausstieg noch nicht. Er muss erst in den anstehenden Koalitionsverhandlungen geregelt und dann umgesetzt werden.

Bis es so weit ist, bleibt der alte Ausstiegsplan in Kraft, das Ziel fürs Kohle-Aus lautet weiterhin 2038. Wie sinnvoll ist der Abriss von Dörfern noch?

"Tagebaugrenze = 1,5-Grad-Grenze"

Geht es nach Petra Schumann, sollen alle Dörfer stehen bleiben und kein weiteres Haus den Baggern zum Opfer fallen. Gemeinsam mit Hunderten Anwohnern und Demonstranten protestiert sie deshalb an einem warmen Sonntag im Herbst in unmittelbarer Nähe des Tagebaus Garzweiler. Familien mit Kindern sind dabei, ältere Ehepaare, Fridays-for-Future-Aktivisten. Ihnen geht es um mehr als nur um ein rein regionales Problem.

Die Grenze des Tagebaus symbolisiert für sie die 1,5-Grad-Marke des Pariser Klimaabkommens: Je weiter die riesigen Bagger vorrücken, desto wärmer wird es auf der Erde – so die Argumentation.

Soll die Erdtemperatur gegenüber 1990 nicht um mehr als 1,5 Grad Celsius steigen, dürften die Braunkohlekraftwerke in Nordrhein-Westfalen nur noch 180 Millionen Tonnen CO2 emittieren – und dafür auch nur noch 70 Millionen Tonnen Braunkohle aus dem Tagebau Garzweiler schöpfen. Das heißt: Womöglich bräuchte es die zusätzliche Baggerfläche gar nicht, zumal RWE innerhalb der Grenzen des aktuellen Tagebaus auch tiefer graben könnte.

Zu diesem Schluss kommt jedenfalls Claudia Kemfert. Sie ist eine der bekanntesten Klimaökonominnen in Deutschland und arbeitet am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Kemfert hat sich im Rahmen einer Studie im Auftrag der Initiative "Alle Dörfer bleiben" mit Garzweiler beschäftigt. t-online sagt sie: "Es ist nicht zu rechtfertigen, dass diese Dörfer noch abgerissen werden."

Landwirt: "Loch ist wie ein Krebsgeschwür"

Eine der Ortschaften, die Kemfert meint, ist das Dorf Lützerath. Dort, nur wenige Hundert Meter entfernt und in Sichtweite der Tagebaukante, steht ein altes Bauernhaus. Der Hof gehört Eckardt Heukamp, seit vier Generationen baut seine Familie in der Region Weizen und Mais an.

Das, was Petra Schumann schon hinter sich gebracht hat, steht Heukamp noch bevor. Zum 1. November soll der Landwirt von seinem Grundstück verschwinden. Er ist der letzte Grundbesitzer in Lützerath. Auch deshalb macht der Demonstrationszug hier Halt.

Schumann und Heukamp kennen sich, und das nicht erst seit den Protesten. "Ich bin als Kind immer mit dem Fahrrad zu dem Hof von Eckhardts Eltern gefahren und habe ihr weißes Pony bewundert", sagt sie. Sie kann verstehen, dass Heukamp nicht ausziehen will – trotz der zugemauerten Nachbarhäuser und des Tagebaus in Sichtweite. Der Landwirt begründet seine Motivation so: "Dieses Loch frisst sich durch die Landschaft wie ein Krebsgeschwür und zerstört dabei die Umwelt und die alte Heimat. Das allein ist Antrieb genug."

RWE: "Unsere Bagger folgen den Braunkohleflözen"

RWE dagegen sieht sich im Recht. Die schwarz-gelbe Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat in einer sogenannten Leitentscheidung festgelegt, dass unter Immerath und Lützerath Braunkohle geschürft werden darf. Erst vor wenigen Monaten bekräftigte die Regierung von Noch-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) den Entschluss.

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Auf t-online-Anfrage teilt RWE mit: "Es liegt in der Natur des Bergbaus, dass er Raum greift und sich in eine Richtung entwickelt. Unsere Bagger folgen den Braunkohleflözen, die sich unter Lützerath und den anderen Orten fortsetzen."

Die Demonstranten vor Heukamps Hof lassen das nicht gelten. Sie wollen, dass für die Stromerzeugung keine Kohle mehr verfeuert wird und versprechen dem Landwirt Beistand. Eckhardt Heukamp – für die Demonstranten ist er so etwas wie das letzte Bollwerk gegen RWE.

Braunkohle ist weltweit auf dem Vormarsch

Braunkohlekraftwerke haben im vergangenen Jahr etwa 16 Prozent des Stroms in Deutschland erzeugt. 2018 lag dieser Anteil laut Statistischem Bundesamt noch bei 23 Prozent. Aus unseren Steckdosen kommt mittlerweile zu rund 43 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien. Den größten Anteil nimmt dabei die Windkraft ein.

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Weltweit hat sich der Anteil des Kohlestroms derweil stark erhöht. Nach Daten der Global Coal Exit List, betrieben von der deutschen NGO "Urgewald", stieg die Kraftwerkskapazität seit der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens im Jahr 2015 um 157 Gigawatt an. Das ist so viel wie die Gesamtkapazität aller Kohlekraftwerke von Deutschland, Russland, Japan und der Türkei zusammen. Nach Angaben des Weltklimarats IPCC verbraucht die fossile Stromerzeugung den größten Teil des weltweit verbleibenden Budgets an CO2. Deshalb sei hier auch das größte Einsparpotenzial – auch in Deutschland.

Laut Wissenschaftlerin Claudia Kemfert braucht es deshalb mehr Tempo bei der Energiewende. "Es muss ein Kohleausstieg bis 2030 stattfinden", sagt sie. "Sonst sind die Emissionsziele nicht zu erreichen, zu denen wir uns vertraglich verpflichtet haben."

"Zerstörerischer Eingriff in eine Gemeinschaft"

So gesehen könnte es eine Win-Win-Situation geben: Früher raus aus der Kohle – und die Rettung der Dörfer. Die Umsiedlung Hunderter Menschen, die ganze Dorfgemeinschaften entzweit, wäre überflüssig.

Mit diesem Thema beschäftigt sich auch Ludger Gailing, Professor für Regionalplanung an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU). "Schwierig sind die Situationen, in denen nicht klar ist, was passieren wird", sagt er im Gespräch mit t-online. "So wie in der jetzigen Debatte um einen früheren Kohleausstieg. Das schafft Unsicherheit in den Dörfern und führt zum Zwist zwischen denjenigen, die bleiben wollen, und denjenigen, die gehen wollen."

Die Prozesse der Umsiedlung hätten sich zwar verbessert, sagt Gailing. So konnten die Dorfbewohner etwa Teile der alten Kirche in die neuen Orte mitnehmen. "Nichtsdestotrotz bleibt eine Umsiedlung ein zerstörerischer Eingriff in eine solche Gemeinschaft", so Gailing.

Streit um Entschädigung

Ein großes Problem bei alldem: das Geld. Zum Ausgleich für den Abriss werden den Bewohnern an anderer Stelle neue Grundstücke angeboten. So ist neben Immerath inzwischen auch Immerath (neu) auf Autobahnschildern zu sehen. Wer nach Immerath (neu) ziehen will, muss mit RWE über eine Entschädigung verhandeln.

Doch nicht jeder hat dabei die gleichen Chancen. In der Regel zahlt RWE den Hausbesitzern den normalen Verkehrswert der Immobilie plus einen Aufschlag. Wer ein altes Haus mit abgenutzten Dielen und alten Fenstern besitzt, bekommt entsprechend weniger ausgezahlt als die Besitzer eines neuwertigeren Hauses. Noch komplizierter wird es, wenn – wie im Fall von Eckhardt Heukamp – noch Ackerland hinzukommt.

Und so nehme jeder im Ort die Umsiedlung anders wahr, sagt auch Lokalpolitiker Hans Josef Dederichs. Dederichs sitzt für die Grünen im Stadtrat von Erkelenz, zu dessen Gebiet die Tagebauregion um Garzweiler gehört. "Wir leben seit Mitte der 80er-Jahre damit, dass der Tagebau kommt", sagt Dederichs. "Das war auf jeder Familienfeier, auf jedem Geburtstag, auf jedem Schützenfest Thema. Manche dachten, der Tagebau kommt nicht so weit, andere sahen darin eine Chance und wieder andere wollten den Tagebau verhindern. Das spaltet eine Dorfgemeinschaft und die muss jetzt erst wieder zusammenwachsen."

Spuren hinterlässt der Prozess auch in den am Reißbrett geplanten neuen Siedlungen. Wer sie besucht, findet einen Spielplatz vor, neue Häuser, eine neue Kirche. Alles ist moderner, aber auch geradliniger – ein Kontrast zu den alten Ortschaften mit den teils etwas schiefen Häusern und den antiken Scheunentoren. So wie die noch dünnen Bäume am Straßenrand muss in den neuen Ortschaften noch viel wachsen – das wird Jahre dauern.

"RWE steht einerseits auf der Bremse und will andererseits Gas geben"

Umso größer sind die Hoffnungen der jetzt Betroffenen, dass die künftige Bundesregierung ihnen all das noch erspart. Viel hängt dabei von den Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP ab.

Noch gilt das Ausstiegsdatum 2038. An diesen Fahrplan halte sich auch RWE, wie Guido Steffen, Sprecher des Energiekonzerns, gegenüber t-online bestätigt. Der Kohleausstieg laufe "konsequent, aber schrittweise ab und nicht mit einer Vollbremsung, also dem jähen Stopp aller Tagebaue und Kraftwerke, so wie sich das die Aktivisten in Lützerath wünschen", so Steffen.

Dabei sei eine vollständige Umstellung auf erneuerbare Energien bis 2030 machbar, sagt Wissenschaftlerin Claudia Kemfert. Jedoch gebe es Bedingungen für den Erfolg. "Für einen Kohleausstieg 2030 muss der Anteil erneuerbarer Energien deutlich schneller ansteigen", sagt Kemfert. "Das kann aber sehr gut gelingen, wenn man jetzt die richtigen Weichen stellt und die Barrieren, die es noch gibt, abschafft." Dazu gehörten unter anderem Abstandsregeln für Windräder.

Auch RWE hält eine Umstellung bis 2030 nicht für ausgeschlossen und stimmt Kemfert in Teilen zu. Wie schnell Deutschland aus der Braunkohle aussteigen könne, hänge "vom Ausbau der Erneuerbaren, der Stromnetze und der Energiespeicherung ab. Das ist noch viel zu tun", so RWE-Sprecher Steffen.

"RWE steht einerseits auf der Bremse und will andererseits Gas geben. Das geht meistens nicht gut. Deshalb wäre es auch für RWE sinnvoller, man würde früher aus der Kohle aussteigen. Das lohnt sich auch wirtschaftlich", sagt Claudia Kemfert.

"RWE will mich im November raus haben"

Für eine Vollbremsung vor Immerath und Lützerath ist es aber wohl zu spät. "Ich habe zwar Hoffnung, dass sich mit der neuen Regierung etwas tut. Aber man muss realistisch sein", sagt Landwirt Heukamp. "RWE will mich im November raus haben und die Koalitionsverhandlungen werden wohl bis Dezember gehen." Sein Hof soll wie ganz Lützerath bis Ende 2022 von RWE "bergbaulich in Anspruch" genommen werden, teilt der Konzern mit.

Dann wird sich die Grube womöglich weiter in die Landschaft fressen – und das obwohl schon heute sichtbar ist, was die Zukunft ist: Rund um den Tagebau ragen zahlreiche Windräder in die Höhe. Noch weiter weg, im Hintergrund, bläst der Wind den Wasserdampf des Kohlekraftwerks Neurath zum Horizont.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen vor Ort
  • Interview mit Petra Schumann
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