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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Forderungen nach pauschalem Tempolimit Tempo 30 innerorts: "Wirkung nicht wissenschaftlich belegt"
Tempo 30 in Ortschaften für mehr Fußgängerschutz? Eine Expertin lehnt eine pauschale Lösung ab – und hat eine Forderung an die Politik.
Die Forderung der Polizeigewerkschaft, zugunsten der Fußgängersicherheit in Ortschaften ein Regeltempo von 30 km/h mit bestimmten Ausnahmen einzuführen, ist auf ein geteiltes Echo gestoßen – auch bei den Leserinnen und Lesern von t-online. Von einer befürchteten Abzocke bis hin zu einer Zustimmung samt Forderung nach mehr Kontrollen war das Meinungsspektrum sehr breit, hier lesen Sie die Einsendungen. Kirstin Zeidler, Leiterin der Unfallforschung der Versicherer (UDV), sagt im Gespräch mit t-online "Die Wirkung eines pauschalen Tempo 30 ist noch nicht wissenschaftlich belegt."
Dass die Geschwindigkeit einer der Faktoren für Unfälle ist, zeigen auch die Statistiken der UDV. Tempo 30 hat laut Zeidler für Fußgänger positive Effekte, da diese Unfälle zumindest weniger schwer ausfallen. Doch sie gibt zu bedenken: Auch in Bereichen, in denen jetzt schon langsam gefahren wird, kommt es zu schweren Unfällen – beim Abbiegen, beim Ausparken, an Ausfahrten und auch auf Tempo-30-Strecken. "An jedem fünften tödlichen Unfall sind Lkw und Busse beteiligt, und häufig wurde dabei langsam gefahren", sagt Zeidler. Entsprechend komme es nicht ausschließlich aufs Tempo an, sondern auch auf die Infrastruktur, Assistenztechnik wie Totwinkelwarner und das Verhalten der Fahrer selbst.
Zur Person
Kirstin Zeidler ist seit dem 1. Februar 2024 Leiterin der Unfallforschung der Versicherer. Sie studierte Betriebswirtschaftslehre und war anschließend in der Öffentlichkeitsarbeit verschiedener Unternehmen tätig. Ende 2010 wechselte sie zum Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) nach Berlin.
Verkehrsteilnehmer müssen sich an Tempolimits halten
Mit neun Prozent waren Fußgänger im Jahr 2023 die zweitgrößte Gruppe der Unfallbeteiligten nach Autofahrern. Die Zahl der verunglückten Fußgänger lag bei 33.504, die Zahl der Getöteten bei 449. Unter 15-Jährige sowie Menschen über 75 Jahre waren dabei am häufigsten in Unfälle verwickelt. "Wenn wir über die breitflächige Einführung von Tempo 30 sprechen, lassen sich ungefähr zehn Prozent aller tödlichen Fußgängerunfälle vermeiden oder ihre Folgen reduzieren", ordnet Zeidler ein – vorausgesetzt allerdings, dass sich alle Verkehrsteilnehmer an das Tempolimit halten, was oft genug nicht der Fall ist. Und dies wiederum bedeute einen erheblichen Kontrollaufwand.
Für die Expertin gibt es jedoch aktuell ein wichtiges Argument gegen die Einführung eines flächendeckenden Tempolimits: "Die Wirkung eines pauschalen Tempo 30 ist noch nicht wissenschaftlich belegt", so Zeidler. Zwar hätten andere Städte wie die finnische Hauptstadt Helsinki bereits strengere Tempolimits eingeführt und weisen teils sinkende Unfallzahlen vor, doch diese Ergebnisse lassen sich Zeidler zufolge nicht einfach 1:1 übertragen: "In anderen Ländern spielen auch andere Bedingungen wie unterschiedliche Verkehrsdichten oder Straßennetze eine Rolle, aber auch die Zusammenwirkung verschiedener Maßnahmen", erklärt die Expertin: Teilweise sei auch die Infrastruktur massiv umgebaut worden, sodass die Sicherheit auch dadurch gestiegen sei.
Das fordern die Versicherer
Bis es also eine ausreichende wissenschaftliche Datenlage auch für Deutschland gibt, sprechen sich Zeidler und der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) für mehr Möglichkeiten für die Städte und Gemeinden aus, Tempo 30 präventiv an möglichen Gefahrenstellen auszusprechen und zu kontrollieren. Mit der Novelle der Straßenverkehrsordnung im vergangenen Jahr gibt es dafür bereits mehr Möglichkeiten, doch das reicht aus Sicht der Versicherer nicht aus – sie fordern noch mehr Freiheiten in der Entscheidungsfindung. "Die Kommunen kennen die Situation vor Ort am besten und sollten Tempolimits dort einführen können, wo sie wirklich die Sicherheit erhöhen", sagt Zeidler.
- Telefonisches Gespräch mit Kirstin Zeidler