Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Netflix-Hit zeigt reelle Gefahr Erwachsene wissen nicht, was da vor sich geht

Die Serie "Adolescence" war Gegenstand einer Debatte im britischen Parlament. Es geht darin um Gewalt, die durch digitale Medien befeuert wird. Das sollte auch in Deutschland ein größeres Thema sein, meint unser Kolumnist Bob Blume.
Wenn eine Serie bei einem Streaming-Dienst Aufsehen erregt, ist das nichts Besonderes. Wenn sie es aber bis ins britische Parlament schafft, lohnt sich ein genauerer Blick. Genau das ist im Fall der Serie "Adolescence" geschehen – ein Justizdrama, das den Fall eines 13-jährigen Jungen erzählt, dem der Mord an einer Mitschülerin vorgeworfen wird. Das Frauenbild des Teenagers soll durch Social Media derart radikalisiert worden sein, dass er zu einer solchen Tat fähig war.
Besonders eindringlich ist eine Szene, in der eine Psychologin den Jungen befragt. Er brüllt sie an, fegt seinen Kakao vom Tisch – und fragt wenig später nach einem neuen. Er zeigt keine Spur von Selbstreflexion. Woher kommt diese Wut? Eine Wut, die im Film tödlich endet.

Zur Person
Bob Blume ist Lehrer, Autor und Podcaster. In seiner Kolumne für t-online kommentiert er aktuelle Bildungsthemen mit spitzer Feder. Man findet Blume auch auf Threads und Instagram als @netzlehrer. Sein neues Buch "Warum noch lernen?" ist im Handel erhältlich. Mehr
Auch der britische Premierminister Keir Starmer sprach im Parlament über die Serie, die er mit seinen Kindern geschaut hat. Starmer sagte: "Diese von jungen Männern ausgeübte Gewalt, die davon beeinflusst wird, was sie online sehen, ist ein echtes Problem. Es ist abscheulich, und wir müssen es angehen."
Der Satz klingt wie eine politische Pflichtübung – und trifft doch den Kern.
Erwachsene wissen nicht, was da vor sich geht
Diese Form der Radikalisierung geschieht – jeden Tag, direkt vor unseren Augen. Nur: Wir schauen nicht hin.
Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Viele Erwachsene verstehen nicht, wie es ist, in einer digitalen Welt aufzuwachsen. Das ist keine Schuldzuweisung, sondern ein Fakt. Die Entwicklung war rasant. Instagram etwa gibt es erst seit 2010. Heute ist die Plattform nicht nur ein Ort zum Teilen von Bildern, sondern ein digitaler Kommunikationsraum. Influencer wie Andrew Tate – wegen Menschenhandels angeklagt – verbreiten dort ein Frauenbild, das zutiefst menschenverachtend ist. Trotzdem empfing ihn die US-Regierung unter Donald Trump. Frauenhass ist anschlussfähig geworden. Und er trifft dort auf offene Ohren, wo junge Menschen nach Orientierung suchen.
Zweitens: Viele Erwachsene wissen gar nicht, dass es diese Anti-Vorbilder überhaupt gibt. Ich habe in einem früheren Text über Finanzpodcasts geschrieben, die ein Einfallstor für rechtslibertäre Gedanken sein können. Wenn ich bei Vorträgen frage, wer diese Podcasts kennt, geht nur bei ein bis zwei Prozent der Lehrerinnen und Lehrer die Hand hoch. Frage ich dasselbe in einer Schulklasse, melden sich 50 bis 70 Prozent. Während also die ersten Symptome einer geistigen Vergiftung sichtbar werden, ist von Prävention kaum etwas zu spüren. Weil diejenigen, die etwas tun könnten, nicht einmal merken, dass da etwas vor sich geht.
Es wird zu zögerlich gehandelt
Dabei ist das Problem längst messbar. Eine Studie der DAK fand heraus, dass mehr als jedes vierte Kind zwischen zehn und 17 Jahren in Deutschland problematische Smartphone-Nutzungsmuster aufweist. Hochgerechnet sind das 1,3 Millionen Kinder. Der US-Psychologe Jonathan Haidt beschreibt in seinem Bestseller "Generation Angst", wie stark die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen in den USA nach der Einführung sozialer Medien zugenommen hat. Depressionen, Essstörungen, Angstzustände – alles auf dem Vormarsch.
Politisch wird reagiert, wenn auch zögerlich. In Deutschland diskutieren Bildungsminister über Smartphone-Verbote an Schulen. Das klingt zunächst vernünftig – greift aber zu kurz. Denn solange Grundschulkinder mit Handys ausgestattet sind und jeder Teenager Zugang zu sozialen Plattformen hat, helfen auch Schulregeln wenig. Die gefährlichen Inhalte erreichen die Jugendlichen trotzdem. Studien zeigen, wie stark Algorithmen auf Plattformen wie TikTok dazu beitragen, dass Menschen sich radikalisieren oder Verschwörungserzählungen folgen. TikTok hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht: Wer hängen bleibt, bekommt mehr vom selben. Und wenn das nicht reicht, werden die Inhalte eben extremer.
Wieso nicht im deutschen Bundestag?
Insofern ist es fast ein Hoffnungsschimmer, dass es eine Serie wie "Adolescence" bis ins britische Parlament geschafft hat. Sie macht ein Thema sichtbar, das lange ignoriert wurde: die digitale Radikalisierung junger Menschen. Wer heute erzieht, unterrichtet oder Verantwortung trägt, muss verstehen, wie TikTok funktioniert – und warum ein Jugendlicher nach einem Wutanfall seelenruhig nach Kakao fragt. Denn hinter diesem Verhalten steckt nicht nur ein gestörtes Selbstbild. Es steckt ein System dahinter, das aus Orientierungslosigkeit Kapital schlägt.
Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Politikerinnen und Politiker – sie alle müssen erkennen: Der Einfluss digitaler Räume auf unser Denken ist real, tiefgreifend und gefährlich. Es geht dabei nicht nur um Einzelfälle oder tragische Ausreißer. Es geht um Respekt, Gleichberechtigung und die Grundlagen unseres Zusammenlebens. Es geht um eine Generation, die Orientierung sucht – und dabei auf Menschen trifft, die ihr Hass als Lebensstil verkaufen.
Vielleicht ist es also an der Zeit, dass auch im Deutschen Bundestag über diese Netflix-Serie gesprochen wird.
- Eigene Meinung
- serienjunkies.de: "Serienhit 'Adolescence' dominiert überall die Netflix-Charts und entfacht globale Debatten"
- stern.de: "Gesellschaft: Britischer Premier besorgt über junge Männer"
- dak.de: "DAK-Studie Mediensucht 2024"