Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Bildungspläne von Schwarz-Rot Die Substanz ist erbärmlich

Was SPD und CDU im neuen Koalitionsvertrag zur Bildung formulieren, liest sich wie der Versuch, die Misere im Bildungswesen endlich anzugehen. Doch schaut man genauer hin, zeigt sich, was fehlt.
Um zu begreifen, wie es um die Bildung steht, reicht ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns vier Kinder vor, die in die weiterführende Schule kommen sollen. Eines davon kann nicht richtig lesen und schreiben. Eines hat psychische Probleme. Ein weiteres erreicht trotz Potenzials nach der Schullaufbahn keine Hochschule, weil seine Eltern die möglichen Wege zum Abitur nicht kennen. Das vierte schafft es zwar, bleibt aber im internationalen Vergleich im Mittelfeld.

Zur Person
Bob Blume ist Lehrer, Bildungsinfluencer und Podcaster. Er schreibt Bücher zur Bildung im 21. Jahrhundert und macht in den sozialen Medien auf Bildungsthemen aufmerksam. In seiner Kolumne für t-online kommentiert er aktuelle Bildungsthemen mit spitzer Feder. Man findet Blume auch auf Threads und auf Instagram als @netzlehrer, wo ihm mehr als 160.000 Menschen folgen. Sein neues Buch "Warum noch lernen?" ist ab sofort im Handel erhältlich.
Zugegeben: Das ist zugespitzt. Doch genau diese Zuspitzung macht sichtbar, welche Probleme in der Bildungspolitik zu lösen wären – belegt durch drei große Studien: die IGLU-Studie zur Lesekompetenz, die COPSY-Studie zu psychischer Gesundheit und die PISA-Erhebung zur internationalen Vergleichbarkeit von Schulleistungen. 25 Prozent der Grundschüler haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Jedes fünfte Kind hat psychische Probleme. Und im internationalen Vergleich liegt Deutschland laut PISA-Studie auf den hinteren Rängen, was die Bildungschancen von Kindern betrifft, die aus sozial schwachen Familien stammen.
Zwischen Ambition und Alibi
Der Koalitionsvertrag hingegen bietet Vorschläge, die sich in drei Kategorien unterteilen lassen: nett gesagt, aber vage (und damit sehr wahrscheinlich politisch zu ignorieren). Gut gemeint, aber nicht tiefgreifend genug. Und: gar nicht erst adressiert.
Beispiel für die erste Kategorie: "Jugendliche sollen ihr Potenzial unabhängig von ihrer Herkunft entfalten können." Und: "Wir brauchen ein modernes Bildungssystem." Beides richtig – aber auch nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit. Etwas verbindlicher klingt: "Wir fördern Bildungsgerechtigkeit, Leistungsfähigkeit und Inklusion." Doch wie genau? Das bleibt offen.
Gerade diese Frage ist entscheidend. Denn ein zentrales Problem des deutschen Bildungssystems ist die sogenannte Verantwortungsdiffusion: Niemand ist wirklich zuständig, wenn es brennt. Dass der Bildungsföderalismus unangetastet bleibt, überrascht da kaum – aber es konserviert auch das Problem. Seit Jahrzehnten scheitern sinnvolle Reformen am politischen Kleinstaat-Denken. Der Koalitionsvertrag klingt deshalb vor allem nach einem: Wir machen weiter wie bisher – mit denselben Mitteln gegen dieselben Probleme, die wir selbst mitverursacht haben.
Einige Lichtblicke – mit Fragezeichen
Dabei gibt es durchaus sinnvolle Maßnahmen. Zu den Vorhaben im Koalitionsvertrag, die Hoffnung machen, zählen:
- Das Startchancenprogramm soll fortgeführt werden, um die Zahl der Kinder ohne Abschluss und mit Problemen beim Lesen und Schreiben zu senken. Bis 2024 stehen 20 Milliarden Euro zur Verfügung, um Schulen, an denen viele Kinder aus einkommensschwachen Familien lernen, zu unterstützen.
- Eine bundesweite Schüler-ID, also eine individuelle Nummer für jeden Schüler, solle die Zusammenarbeit zwischen Ländern und Institutionen erleichtern – auch wenn der Datenschutz hier offenbleibt. Mit dieser Nummer sollen lückenhafte Bildungsbiografien verhindert, die Schulabbrecherquote gesenkt werden.
- Der Digitalpakt wird verlängert und um Künstliche Intelligenz ergänzt – allerdings ist die Finanzierung noch unklar.
- Die Demokratie- und die Medienbildung sollen durch Initiativen und Programme wie "Kultur macht stark" gefördert werden.
- Schulen sollen mithilfe eines Investitionsprogramms saniert werden.
- Die Ausbildung von Lehrkräften soll verlässlicher und besser werden.
Das klingt zunächst einmal gut. Doch vieles davon kostet Milliarden. Und schon jetzt ist fraglich, ob die Mittel dafür wirklich zur Verfügung stehen – man denke nur an die schleppende Anschlussfinanzierung des ersten Digitalpakts oder die Höhe der Summe, die laut Kreditanstalt für Wiederaufbau allein für Gebäudesanierungen notwendig wäre, nämlich fast 55 Milliarden Euro.
Wer soll das alles umsetzen?
Große Lücken klaffen dort, wo es um die Umsetzung geht. Inklusion? Wird nur zu Beginn erwähnt – danach kein Wort mehr. Qualitativ hochwertige Lehrerbildung? Wichtig, aber zweitrangig, wenn die nötigen Menschen fehlen. Schon jetzt verlassen zehntausende Lehrerinnen und Lehrer den Dienst – nicht aus Altersgründen, sondern freiwillig.
Da hilft auch keine noch so gute Fortbildung für den verbleibenden Kollegenkreis. Denn am Ende braucht es schlicht Menschen, die unterrichten. Und zwar dort, wo sie gebraucht werden – nicht nur in gut ausgestatteten Schulen der Ballungsräume.
Kein Mut zur Vision
Natürlich ist es besser, überhaupt etwas zu tun als gar nichts. Aber ein bisschen Gutes reicht nicht, um das Ruder herumzureißen. Bildung ist Ländersache – ja. Doch selbst in den Bereichen, in denen der Bund mitentscheiden kann, fehlt es an einer Vision. An dem Willen, große Fragen auch wirklich zu beantworten. Wie gelingt echte Inklusion? Wie sichern wir langfristig die Finanzierung für Digitalisierung und Gebäude? Wie holen wir verlorenes Vertrauen in die Bildungspolitik zurück?
Wer diesen Koalitionsvertrag liest, bekommt den Eindruck, dass die Regierung zwar einräumt, wie ernst die Lage ist – aber nicht bereit ist, entsprechend zu handeln. Vieles bleibt Flickwerk. Es fehlt der große Wurf.
Das ist tragisch. Denn wenn wir ehrlich sind, hängt die Zukunft unserer Gesellschaft von genau diesem Wurf ab.
- Eigene Meinung