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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Digitales Selbstmobbing Wenn Jugendliche sich selbst im Internet beleidigen
Wird ein Schüler bei Facebook und Co. beschimpft, steckt nicht immer Mobbing dahinter. Manchmal verfasst das vermeintliche Opfer selbst die Gemeinheiten.
"Die ist so hässlich", "Der ist so überflüssig", "Gibt's dich auch in witzig?" – Solch hasserfüllte Beleidigungen stehen bei Facebook, in Foren, bei Whatsapp. Was nach typischen Mobbing-Sätzen klingt, kann auch einen ganz anderen Hintergrund haben. Denn nicht immer sind es andere, die über einen Jugendlichen verletzende Sätze im Internet verbreiten.
Manchmal ist es das vermeintliche Mobbing-Opfer selbst, das die Gemeinheiten verfasst. Dieses Phänomen wird als digitales Selbstmobbing bezeichnet, im amerikanischen Sprachraum heißt es "cyber self-harm". Dabei posten Jugendliche gemeine Dinge über sich selbst in sozialen Netzwerken. Teils tun sie dies anonym, teils erschaffen sie zu diesem Zweck eine dritte Person, in deren Namen die Beleidigungen geteilt werden.
Digitales Selbstmobbing ist selbstverletzendes Verhalten
"Es handelt sich um eine spezielle Form von selbstverletzendem Verhalten", sagt Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologen. Dabei schade sich der Betroffene aktiv bewusst oder teilbewusst und vor allem wiederholend. Andere Formen eines solchen Verhaltens, die es schon lange gibt, sind zum Beispiel extremes Nägelkauen, Haare ausreißen, Verbrennungen, Risikoverhalten im Straßenverkehr oder Ritzen. "Da heutzutage alle Jugendliche ein Smartphone in der Tasche haben, ist auch das Internet ein Ort, an dem selbstschädigendes Verhalten stattfindet."
Selbsthass, Suche nach Zuneigung oder depressive Symptome sind häufig damit verbunden. Ursachen können Wut, Einsamkeit, ein geringes Selbstwertgefühl oder Traurigkeit sein.
Elizabeth Englander, Psychologie-Professorin an der Bridgewater State University in Amerika, hat zu diesem Thema geforscht. Sie schätzt, dass zwischen zehn und 15 Prozent der Jugendlichen Selbstmobbing zumindest einmal ausprobieren. "Viele von ihnen tun dies nur ein einziges Mal. Wenn sie feststellen, dass sie nicht die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl erlangen, dass sie sich wünschen, hören sie damit auf", sagt sie. "Oder aber sie bekommen die gewünschte Aufmerksamkeit, haben aber kein dauerhaftes Bedürfnis danach. Dann hören sie auch auf."
Auf der anderen Seite gebe es aber ebenso Teenager, die sich immer und immer wieder selbst in sozialen Netzwerken beleidigen. Diese hätten ihren Studien zufolge oftmals schlechte soziale Fähigkeiten und Probleme mit zwischenmenschlichen Beziehungen.
Die Betroffenen gieren nach Aufmerksamkeit
Hier klingt bereits an, worum es den Selbstmobbern geht: Sie wollen Aufmerksamkeit. "Insbesondere bei Mädchen kann dies als Hilferuf gedeutet werden", sagt Dr. med. Dipl.-Psych. Harald Tegtmeyer-Metzdorf vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). "Der Wunsch, dass andere ihnen gegen diese Anschuldigungen helfen und sie unterstützen, kann dahinter verborgen sein." Denn meistens zeigen die Jugendlichen die verletzenden Postings anderen und erhoffen sich dadurch Mitleid und eine Reaktion wie: "Was da steht, stimmt doch gar nicht. Du bist doch gar nicht so."
Elizabeth Englander befragte bereits 2011 und 2012 amerikanische Jugendliche, warum sie online Negatives über sich selbst verbreiten. Die meisten von ihnen gaben an, dadurch die Aufmerksamkeit eines Gleichaltrigen erlangen zu wollen. Vor allem Mädchen wollten zudem zeigen, dass sie Beleidigungen und Hass aushalten können und gleichzeitig andere animieren, sich Sorgen um sie zu machen. Jungen hingegen gaben an, durch das digitale Selbstmobbing einen Streit anzetteln zu wollen.
Digitales Münchhausen: Wie kann den Betroffenen geholfen werden?
Englander spricht im Zusammenhang mit diesem Phänomen auch von "digitalem Münchhausen". Das Münchhausen-Syndrom beschreibt eine psychische Störung, bei der die Betroffenen körperliche Beschwerden erfinden oder sich selbst zufügen – mit dem Ziel, beachtet zu werden. "Wenn sie digitale Technologien benutzen, müssen sie sich nicht physisch verletzen, um diese Aufmerksamkeit zu bekommen", sagt die Psychologin.
Es ist schwierig, herauszufinden, ob jemand von anderen gemobbt wird oder ob er sich selbst mobbt. Zumindest anfänglich spielt das auch keine Rolle: "In beiden Fällen sollte man um die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden des Betroffenen besorgt sein", sagt Englander. Denn in beiden Fällen benötige der Betroffene Aufmerksamkeit und Hilfe. Das sieht auch Psychologe Seifried so: "Das Entscheidende ist, dass Eltern, Mitschüler und Lehrkräfte sensibel dafür sind, wie es jemandem geht. Wenn sich jemand zurückzieht und merkwürdig verhält, dann sollte man schauen, was dahintersteckt und mit ihm ins Gespräch kommen."
Seifried erklärt, dass Selbstmobber durch das Herumzeigen der Gemeinheiten versuchen, Hilfe zu holen. "Wenn jemand richtig gemobbt wird, versteckt er das in der Regel, weil er Scham empfindet", so der Experte. Selbstmobbing sollte behandelt werden. "Dahinter steckt eine große psychische und emotionale Belastung."
- Eigene Recherchen
- Interview mit Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologen
- E-Mail-Korrespondenz mit Elizabeth Englander, Psychologie-Professorin
- Pressemitteilung des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte