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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Eltern im Ausnahmezustand Wenn Mama oder Papa die eigenen Kinder entführen
Jedes Jahr werden mehrere Hundert deutsche Kinder von Mutter oder Vater entführt. Wer sich – zumindest aus Sicht des zurückbleibenden Elternteils – heimlich mit dem Nachwuchs absetzt, handelt oft aus einer familiären Brandsituation heraus. Solche Blitzaktionen können schnell eskalieren. Eine Fachanwältin rät, sich in jedem Fall vorab rechtlich abzusichern.
Entführungen ins oder aus dem Ausland halten sich die Waage
380 Fälle von Entführungen deutscher Kinder hat allein die Zentrale Behörde für internationale Sorgerechtskonflikte im Bundesamt für Justiz (BfJ) im Jahr 2016 bearbeitet. Davon waren 190 Verfahren "ausgehend", das heißt, es ging um eine Rückführung widerrechtlich aus Deutschland ins Ausland gebrachter und dort zurückgehaltener Kinder. Die gleiche Zahl "eingehender" Verfahren bezog sich auf die Rückholung von Minderjährigen aus anderen Staaten nach Deutschland.
Die Zahl der tatsächlichen Entführungen liegt wohl deutlich höher. Thomas W. Ottersbach vom Bundesamt für Justiz weist darauf hin, dass viele Staaten entsprechende Abkommen zur Rückführung von Kindern (siehe Kasten „Gesetzliche Regelungen bei internationalen Entführungen“) nicht unterschrieben haben. Zudem könnten sich betroffene Eltern statt an das BfJ direkt an einen Rechtsanwalt wenden, um eine Herausgabe des Kindes zu erwirken. An erster Stelle bei eingehenden wie ausgehenden Verfahren steht demnach Polen. Bei den eingehenden Verfahren folgen die USA und Italien, bei den ausgehenden die Türkei, Rumänien und die USA.
Nicht in den Daten des Bundesjustizamts enthalten sind inländische Kindesentführungen. Der Gesetzgeber spreche zunächst von "Kindesentziehung", wenn ein Elternteil den Umgang des anderen mit seinem Kind verhindere, erläutert Edith Schwab, Fachanwältin für Familienrecht in Speyer. Als "Kindesentführung" werde in der Regel eingestuft, wenn eine Minderjährige oder ein Minderjähriger dazu widerrechtlich ins Ausland gebracht werde. Auf beides steht gemäß Paragraf 235 StGB eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe – und auch der Versuch ist strafbar.
Trennungskonflikte als Auslöser
Häufig sind es Sorgerechtsstreitigkeiten, die mit Kindesentziehung oder -entführung enden. Auch aus dem Ruder gelaufene Konflikte im Zuge einer Trennung der Eltern stecken laut dem Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf, oft dahinter – und möglicherweise der Versuch, Druck auf den Partner auszuüben, um das endgültige Aus der Beziehung zumindest hinauszuschieben.
Bei Müttern oder Vätern, die gegen den Willen des anderen Elternteils mit Anhang aus dem Ausland nach Deutschland zurückzukehren, spielt demnach außerdem die Furcht eine Rolle, im fremden Land schlechtere Chancen oder keine Zukunftsperspektive zu haben.
Nicht jeder unangekündigte Umzug ist eine Entführung
Diversen Statistiken zufolge sind es überwiegend Frauen, die mit dem Nachwuchs das Weite suchen. Doch nicht immer handelt es sich gleich um Kindesentziehung oder -entführung, wenn ein Elternteil ohne vorherige Ankündigung samt Spross verschwindet. Mamas oder Papas, die über das alleinige Sorgerecht oder das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für ein Kind verfügen, dürfen mit diesem ziehen, wohin sie wollen, stellt Edith Schwab klar.
Sind beide Eltern sorgeberechtigt, müssen sie hingegen gemeinsam über den Aufenthaltsort des Nachwuchses entscheiden. Das heißt: Auch ein sorgeberechtigter Elternteil hat nicht das Recht, ohne Zustimmung des anderen Sorgeberechtigten den Wohnort zu wechseln und das Kind mitzunehmen – selbst dann nicht, wenn es bei ihm lebt. Ohne vorherigen richterlichen Beschluss sei das Kindesentziehung, sagt Edith Schwab. Geht der übergangene Elternteil gerichtlich dagegen vor, kann er sehr schnell die neuen Lebenspläne vereiteln.
Bei der Entscheidung des Gerichts über den Verbleib eines Kindes stehe grundsätzlich das Wohl des Nachwuchses im Vordergrund, betont die Anwältin. Sei nach dem Ortswechsel mehr als ein Jahr vergangen, würden Kinder – sofern alt genug – gefragt, wo sie weiterhin leben möchten. Die Richter berücksichtigen dann die Möglichkeit, dass sich das Kind inzwischen in der neuen Umgebung eingelebt hat.
Distanz spielt eine wichtige Rolle
Ein wichtiger Aspekt im elterlichen Zoff um den Wohnort ist die Distanz, die durch den Wegzug zwischen Kind und zurückbleibendem Elternteil entsteht. Verlagere beispielsweise eine Mama den gemeinsamen Lebensmittelpunkt um 100 Kilometer oder mehr, werde das – bei geteiltem elterlichen Sorgerecht – als Kindesentziehung bewertet, sagt Juristin Schwab. Aber auch ein Elternteil, der einen Besuchstag oder Urlaub übermäßig und ohne Absprache ausdehnt oder "vergisst", das Kind zum betreuenden Elternteil zurückzubringen, muss mit Ärger und rechtlichen Konsequenzen rechnen – etwa einer Einschränkung der Umgangsregelung.
Besonders schwierig wird es, wenn Kinder ins Ausland gebracht werden und mit diesem Land keine Vereinbarung zur Rückführung von Kindern im Entführungsfall besteht (siehe Kasten "Gesetzliche Regelungen bei internationalen Kindesentführungen"). Denn auf dem Rechtsweg eine Übergabe der Kinder durchzusetzen, kann sehr kompliziert, langwierig und manchmal unmöglich sein. Wer dazu selbst ins Ausland reisen möchte, dem empfehlen die iaf-Experten unbedingt, vorab gründlich die dortige Situation zu recherchieren. Ins Gepäck gehörten Informationen über Einreise- und Ausreisebestimmungen, Adressen von Ansprechpartnern vor Ort, idealerweise die Kontaktdaten von Juristen sowie der Deutschen Botschaft.
Dramatische Situationen
Wie dramatisch sich Kindesentführungen entwickeln können, hat Edith Schwab in ihrer juristischen Praxis erfahren. So ließ etwa der tunesische Ehemann einer Mandantin ohne deren Wissen die gemeinsamen Töchter über die tunesische Botschaft in seinen Pass eintragen. Das genüge für eine Ausreise nach Tunesien mit den Kindern, sagt die Fachfrau. Kinderpässe seien dann nicht zusätzlich notwendig.
Nach Ehedifferenzen versuchte der Vater, ohne Wissen der Mutter mit den Mädchen in seine Heimat zu fliegen. Alarmiert durch einen Anruf der Tagesmutter, wo der Mann die Kinder vorzeitig abgeholt hatte, besorgte sich die Mutter mit anwaltlicher Unterstützung umgehend einen gerichtlichen Rückführungsbeschluss. In der Folge wurden die Töchter kurz vor dem Abflug von der Polizei aus der Maschine geholt und der Mama übergeben.
Lange nicht immer gibt es eine so schnelle Lösung in derartig kritischen Situationen – auch nicht für Elternteile, die aus dem Ausland mit Kind nach Deutschland zurückkehren wollen. Wer ohne Einwilligung des ebenfalls sorgeberechtigten Partners mit dem Nachwuchs zum Beispiel aus den USA wieder in die Bundesrepublik komme, habe nur eine geringe Chance, die Kinder bei sich behalten zu dürfen, warnt Edith Schwab. Mithilfe eines Beschlusses der amerikanischen Behörden könne der inländische Elternteil zweifellos sein Kind zeitnah nach Amerika zurückholen.
Aufenthaltsbestimmungsrecht beantragen
Die Fachfrau rät Müttern oder Vätern, die einen solchen radikalen Schnitt planen, sich unbedingt vorher rechtlich abzusichern. In Deutschland gewährleiste etwa ein Eilantrag auf das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind, dass der Spross nicht innerhalb kurzer Zeit zum anderen Elternteil zurückgebracht werde.
Schutzschrift verhindert umgehende Rückführung
Eine gute –weitgehend noch unbekannte Option –, um Rechtssicherheit zu schaffen, ist nach Edith Schwab eine sogenannte Schutzschrift, die Betroffene über eine Rechtsvertretung beim Gericht am alten Wohnort hinterlegen können. Diese sorgt dafür, dass die Richter dort nicht ohne mündliche Verhandlung eine Rückgabe des Kindes veranlassen, und kann auf diese Weise etwa verhindern, dass bei familiärer Gewalt ein Kind gemäß Rückführungsbeschluss dem gewalttätigen Elternteil ausgeliefert wird.
Der Vorteil einer Schutzschrift liege darin, dass in einem ordentlichen Verfahren entschieden werde, wo und mit wem das Kind künftig lebe, sagt die Anwältin. Darüber hinaus könnten Betroffene bei Bedarf Verfahrensbeistände hinzuziehen. Im Ausland sollten sich Eltern bei Fachanwälten nach den dort verfügbaren Rechtsmitteln erkundigen.
Informationen und Beratung bei Umgangs- und Sorgerechtskonflikten sowie internationalen Kindesentführungen finden Betroffene bei Rechtsanwälten sowie beim Internationalen Sozialdienst (ISD). Der ISD betreibt eine Hotline Kindesentführung nach oder aus Deutschland unter Telefon (0 30) 62 98 04 03 und ist Träger der Zentralen Anlaufstelle für grenzüberschreitende Kindschaftskonflikte (ZANK) und Mediation. Dorthin können sich zudem Mütter oder Väter wenden, die eine mögliche Kindesentführung fürchten.
Gesetzliche Regelungen bei internationalen Kindesentführungen
Die Basis der zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen bildet das Haager Übereinkommen (HKÜ), das in Deutschland seit Dezember 1990 gilt. Es zielt laut dem Bundesamt für Justiz darauf ab, den entführenden Elternteil daran zu hindern, das Kind eigenmächtig unter Verletzung des Sorgerechts ins Ausland zu bringen und dort eine gerichtliche oder behördliche sorgerechtliche Entscheidung zu bewirken. Für Deutschland greift das Abkommen derzeit im Verhältnis zu mehr als 80 Staaten.
Zum Tragen kommt weiterhin das hierzulande seit Februar 1991 wirksame Europäische Sorgerechtsübereinkommen (ESÜ). Bedeutung für die Rückführung beziehungsweise Herausgabe von Kindern hat es dem Bundesjustizamt zufolge aus deutscher Sicht in der Regel im Verhältnis zu Dänemark, Island, Liechtenstein, zu Mazedonien, Moldau, Montenegro und Norwegen sowie zu der Schweiz und Serbien, der Türkei und der Ukraine.