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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Aus vor 30 Jahren "Superfest": Warum diese DDR-Gläser (fast) nie kaputtgehen
Im Osten gehörten sie zum Gaststätten-Inventar:
Man kennt die Situation aus dem Alltag: Kellner jonglieren in Bars, Cafés und Restaurants zu viele Gläser auf zu vollen Tabletts. Dabei geht im Trubel öfters ein Trinkglas zu Bruch. Wenns zu viele sind, muss der Kellner heute sogar ein Bruchgeld an seinen Chef zahlen. Glasscherben bringen wirklich kein Glück.
Als sich die DDR in den 1970er-Jahren mit Trinkgläsern beschäftigt, denkt sie weniger an ihre Kellner als an die eigene Rohstoffknappheit – und die Ressourcen, die mit Millionen zerbrochener Gläser verschwendet werden. Die Lösung: ein Trinkglas erfinden, das möglichst nicht kaputtgeht, wenn es zu Boden fällt.
Wenn das gelänge, könnte endlich der Bedarf an Bier-, Saft- und Schnapsgläsern für die Gastronomie gedeckt werden. Mehr noch: Vielleicht könnte sich das Trinkglas zum Exportschlager entwickeln und das internationale Ansehen des Arbeiter-und-Bauernstaats steigern. Warum klein denken, wenns um etwas Großes geht.
Spannung macht Glas unempfindlicher und fester
Deshalb beginnen Mitte der 1970er-Jahre Versuche, das herkömmliche dünnwandige Wirtschaftsglas fester und hitzebeständiger zu machen. Verschiedene Methoden werden in Laboren ausprobiert. Später kommen kleine und große Versuchsanlagen dazu. Ziel ist, die Produktion auch wirtschaftlich rentabel zu machen, sprich: die Glasherstellung soll möglichst wenig Energie verbrauchen.
Hier rückt vor allem ein Verfahren in den Mittelpunkt: der sogenannte Ionenaustausch. Dabei werden kleinere Natrium-Ionen durch größere Kalium-Ionen ausgetauscht. Letztere brauchen nach dem Abkühlen des Glases mehr Platz. Der Vorteil: Sie erhöhen die Spannung im Glas; es wird unempfindlicher und fester.
1977 dann der Durchbruch: Ein vierköpfiges Team um den Wissenschaftler Dieter Patzig meldet das Patent für verfestigtes Trinkglas an. Die Erfindung wird auf den Namen "Ceverit" getauft. Das Besondere: Es hält 15-mal länger als normales dünnwandiges Glas. Zudem sind die Trinkgläser hitzebeständig, stapelbar und sogar leichter.
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1979 entsteht für die Produktion extra eine neue Produktionshalle im VEB-Werk Sachsenglas Schwepnitz. Der heute 82-jährige Dietrich Mauerhoff organisiert den Anbau in der Westlausitz. Im Mai 1980 startet die Produktion mit chemisch verfestigten Biergläsern. Schätzungsweise 110 Millionen gehen in den folgenden zehn Jahren vom Band: in allen Größen vom Saft- übers Bier- bis hin zum Schnapsglas mit zwei oder vier Zentilitern (cl). Hinzu kommen noch zwei Vasentypen, ein Teeglaseinsatz und ein Eisbecher. Der Name ändert sich allerdings mit dem Produktionsstart: aus "Ceverit" wird "Superfest".
Als Sergio Leone aus dem "Superfest"-Bierglas trank
Die Trinkgläser treten in den 1980er-Jahren ihren phänomenalen Siegeszug vor allem in der DDR-Gastronomie an. Fast alle Getränke werden in Kneipen, Gaststätten und Cafés jetzt in den neuen, bruchsicheren "Superfest"-Gläsern ausgeschenkt. Sogar internationale Stars und Sternchen trinken daraus. Die meisten wissen allerdings gar nicht, was sie da gerade in der Hand halten.
So zum Beispiel der italienische Filmregisseur Sergio Leone (1929–1989). Als im Juni 1986 sein Kultfilm "Es war einmal in Amerika" in der DDR anläuft – zwei Jahre nach dem weltweiten Kinostart – reist er nach Ost-Berlin. In der Traditionskneipe "Metzer Eck" im Prenzlauer Berg trinkt er selbstverständlich aus einem "Superfest"-0,5-Liter-Bierglas.
Das Aus für die "Superfest"-Trinkgläser
Mir der Wende 1989 und den wirtschaftlichen Umbrüchen 1990 kommt überraschend das Aus für die Trinkgläser-Produktion in Schwepnitz. Die schlichten Gläser, deren Design noch 1980 und 1983 auf der "Leipziger Frühjahrsmesse" ausgezeichnet wurde, sind nicht mehr gefragt. Der Warenstrom von West nach Ost tut sein Übriges. Und: Die unkaputtbaren Gläser wirken in der Marktwirtschaft wie Relikte aus einer fernen Zeit – in der chronische Ressourcenknappheit und nicht der Konsum an erster Stelle steht.
"Am 1. Juli 1990 stand das Rotationsband still. Bis Herbst 1990 wurden dann noch die letzten Gläser produziert", sagt Dietrich Mauerhoff t-online. Später wird das Glaswerk abgewickelt, Maschinen und Anlagen verkauft oder verschrottet. Im April 1992 läuft schließlich das DDR-Patent über das bruchsichere Trinkglas mit der Nummer 157966 sang- und klanglos aus. "Nachmachen kann man 'Superfest' übrigens nicht mehr, weil das Verfahren nur für eine Großproduktion ausgelegt war", sagt Mauerhoff und erzählt von Anrufen interessierter Nachahmer, die ihn immer noch erreichen.
Heute sind die unkaputtbaren Trinkgläser noch im Glasmuseum Weißwasser zu bewundern. Wer Restbestände für seinen eigenen Haushalt sucht, wird auf Online-Marktplätzen fündig. Oder er geht – nach dem Corona-Lockdown – in eine Kneipe in Ostdeutschland. Hier kann es gut möglich sein, dass man sein Bier noch in einem über 30-jährigen "Superfest"-Glas ausgeschenkt bekommt. Na dann Prost!
- Eigene Recherche
- Mauerhoff, Dietrich: "Superfeste Gläser" (08/2011)
- Glasmuseum Weißwasser: "Zu gut für die Marktwirtschaft" (20.1.2017)