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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unverschuldet obdachlos Corinna (29) und ihr Sohn Paul (9) leben im Familienhaus Potsdam
Das AWO-Familienhaus in Potsdam gilt als eine vorbildliche Lösung, wenn es um die Obdachlosigkeit von Eltern und ihren Kindern geht. 19 Familien können hier eine vorübergehende Bleibe finden - sozialpädagogische Betreuung inklusive. Der einzige Nachteil: die Auslastung liegt dauerhaft bei 100 Prozent. Wer hier unterkommt hat das sprichwörtliche Glück im Unglück. So wie Corinna und ihr neunjähriger Sohn Paul.
Persönliche Sachen sind ein wichtiger Halt für Kinder
Corinna (Namen von der Redaktion geändert) ist 29 Jahre alt. Ihr Sohn Paul geht in die dritte Klasse. Beide sind obdachlos. Unverschuldet. Die junge Frau lebte mit dem Vater ihres Kindes zusammen. Er sorgte für die kleine Familie, sie kümmerte sich um den Jungen. Selbst als Waise aufgewachsen in einem Heim, getrennt von ihren zwei Geschwistern, war es Corinna immer wichtig, für ihr Kind voll da zu sein. Als Paul alt genug war, bekam sie die Chance, sich zur Floristin ausbilden zu lassen - ihr Traumberuf. Doch dann kam alles anders.
Plötzlich ganz allein mit einem Berg von Schulden
"Ich fand Mahnungen und eine Ankündigung der Räumung", erzählt die junge Frau. Ihr Freund hatte die Miete schon lange nicht mehr gezahlt und sie hatte davon nichts mitbekommen. Die Konflikte in der Partnerschaft eskalierten und plötzlich stand Corinna alleine da. "Mit einem Kind und einem Berg Schulden, schließlich stand ich gleichberechtigt im Mietvertrag." Völlig überfordert mit der Situation gelang es der jungen Frau nicht, in der Kürze der Zeit eine solche Menge Geld aufzutreiben. Sie stand mit dem Jungen auf der Straße. So wie Corinna und Paul geht es in Deutschland immer mehr Menschen - die Zahl der obdachlosen Familien steigt.
"Ich suchte Rat bei der Wohnungssicherung und mir wurde die Unterkunft im Familienhaus angeboten", berichtet Corinna. "Da ich mich rechtzeitig kümmerte, konnten wir den Leerzug der Wohnung organisieren und Frau Hollmann gestattete mir, einige Möbel und uns wichtige Sachen mitzunehmen. Die Zimmer im Familienhaus wurden extra für uns leergeräumt." Für Paul war es damals erst einmal ein ganz normaler Umzug. Sie aber fühlte sich schlecht, hatte Angst - auch davor, was die Leute denken.
Wenn der Teddy der letzte Halt ist
Birgit Hollmann ist die Leiterin der Einrichtung und sie begrüßt es, wenn eine Familie so viele persönliche Sachen wie möglich mitnehmen kann. Kleine Sachen, an die man gewöhnt ist. Der Teddy-Bär, das Linkin-Park-Poster, Spielzeugautos oder Fotografien.
"Persönliche Gegenstände sind sehr wichtig, wenn man sich komplett entwurzelt fühlt. Doch wenn es ganz hart kommt, steht der Spediteur schon vor der Tür und alles ist weg. Dann versuchen wir erst einmal, schnell aus Spenden die Wohnung so kindgerecht wie möglich zu gestalten." Der nächste Schritt ist es, gemeinsam die Freigabe vom Gerichtsvollzieher zu erreichen, damit sich die betroffene Familie ihre wichtigsten Sachen holen kann.
Ein Familienhaus ist keine Dauerlösung
Die Leiterin der Einrichtung bestätigt aber auch, dass die Wohnungen im Familienhaus der Arbeiterwohlfahrt normalerweise grundmöbliert sind. Das hat mehrere Gründe. Zunächst praktische, denn es gibt Familien, die stehen tatsächlich von heute auf morgen ohne alles da. Es hat aber auch psychologische Gründe. Zu wohl fühlen soll man sich nicht, das Familienhaus ist keine Dauerlösung.
Ziel ist es, den Bewohnern beizubringen, wieder ohne Rundumbetreuung zu leben. Bei den wenigsten klappt das innerhalb einiger Monate. Die meisten brauchen wie Corinna ein Jahr und länger, um wieder Fuß zu fassen. "Es dauerte einige Zeit, bis ich wenigstens unser beider Lebensunterhalt decken konnte."
Die Kinder nicht aus den Augen verlieren
Hollmann und ihre Kollegen bemühen sich darum, dass die Kinder Kontakt zu ihren Freunden behalten, Schule und Kita möglichst nicht wechseln müssen und ihnen damit ein bisschen Sicherheit bleibt. Auch Corinna ließ ihr Kind in der damaligen Kita und schulte den Jungen dann erst in Wohnortnähe ein. "Ich habe versucht, Probleme von meinem Sohn fernzuhalten, ihm das Leben so normal wie möglich zu gestalten." Das scheint der jungen Frau gut gelungen zu sein.
Wenn alles aus dem Ruder läuft, dann herrschen Angst und Wut
Corinna wird von anderen als liebevolle Mutter beschrieben, die es trotz aller Sorgen geschafft hat, ihrem kleinen Sohn das Gefühl von Geborgenheit und Liebe auch in der fremden Umgebung zu vermitteln. "Hier wurde ich aber auch freundlich empfangen und es war immer jemand da, der mir das Gefühl gab, dass das Leben weitergeht."
Doch mit leisen Tönen fügt sie hinzu: "Trotzdem hatte ich Angst vor der Ungewissheit, wie es denn weitergehen soll und ich hatte auch Wut auf mich, dass ich so unaufmerksam war, dass ich nicht merkte, wie alles aus dem Ruder lief."
Die Situation wird oft so lange wie möglich verheimlicht
Wer im Familienhaus unterkommt, bekommt wirklich Hilfe. Beim Umgang mit den Schulden und den zur Verfügung stehenden Mitteln, bei der Suche nach einem Arbeits- beziehungsweise Ausbildungsplatz und bei Suchtproblemen. Aber auch bei der Haushaltsführung, der Kindererziehung und der allgemeinen Bewältigung von Alltagssituationen, und damit bei der Wiedereingliederung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Die Ämter arbeiten eng zusammen, Kinder- und Freizeiteinrichtungen der Stadt Potsdam werden intensiv genutzt, zum Beispiel in Form einer Teilnahme am Ferienlager.
Gerade die älteren Kinder brauchen ab und zu eine Auszeit vom seelischen Stress. "Sie verstehen es sehr gut, die Situation über lange Zeit zu verheimlichen", verrät Birgit Hollmann und zeigt dafür viel Verständnis. "Wir versuchen, ihnen Freizeitangebote am alten Wohnort zu vermitteln, damit sie ihre Freunde behalten können." Nach einer gewissen Zeit, das zeigt die Erfahrung, lockert sich das etwas auf. Irgendwann bringen sie ihre Freunde auch mal mit - zum Werkeln in der Holzwerkstatt oder zum gemeinsamen Backen.
Die Hoffnung ist oft das Letzte, was bleibt
Die letzten Jahre erforderten viel Kraft von Corinna. Kraft, die sie vor allem ihrem Sohn gewidmet hat. Ganz einfach wird es auch in nächster Zukunft nicht sein: "Seit über einem Jahr bin ich auf Wohnungssuche - das ist erst einmal mein vordergründiges Ziel." Ihr Traumberuf - Floristin - muss hinten anstehen. Noch.