Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Lust, Laster und Liebe" Warum wir häufiger oben ohne gehen sollten
Er fehlt in keiner weiblichen Unterwäscheschublade und gehört wie der Slip und die Socken zum fast täglich getragenen Kleidungsstück: der BH. Dabei ist es ohne ihn doch häufig viel besser, oder nicht?
Die Französinnen haben es gezeigt: Im Corona-Sommer geht Frau oben ohne. 20 Prozent der unter 25-Jährigen haben während der Ausgangsbeschränkungen keinen BH getragen. Und wenn junge Französinnen nicht wissen, was gerade en vogue ist, wer dann? Dabei geht es um viel mehr als eine Modeerscheinung.
Endlich frei
Den meisten ging es um die Bequemlichkeit – ein schlecht sitzender BH kann wirklich sehr einengend und einschnürend sein. So manch eine Frau ist froh, das "Ding" abends mit einer gekonnten Bewegung durch ihren T-Shirt-Ärmel oder Kragen zu entfernen, ohne sich dabei obenrum ausziehen zu müssen.
Fest steht: Wenn man im Homeoffice ist, keine offiziellen Termine hat und auch nicht zum Sport geht, kann der Büstenhalter daher schön in der Schublade bleiben, dachte sich der Großteil der Französinnen – ich bin mir sicher, dass auch andere Frauen derselben Meinung waren.
Und wenn einmal das einengende und einschnürende Gefühl um die Brust weg ist, fällt vieles leichter: zum Beispiel das Atmen. Manch eine kann ihre Weiblichkeit besser spüren. Es ist nicht mehr alles fest verpackt. Stattdessen können sich Hautstellen berühren, die Brüste beim Gehen angenehm bewegen und die Schultern entspannen. Alles in allem birgt der BH-Verzicht also viele Vorteile. Warum machen es dann nicht mehr?
Warum verzichten Frauen dann nicht häufiger auf den BH?
Auch das wurden die Französinnen gefragt. Hauptgrund ist die Sexualisierung. Frei schwingende Brüste, abstehende Nippel oder auch sogenannte Busenblitzer – wenn seitlich oder unterhalb des Shirts der Brustansatz zu sehen ist – werden häufig mit Sex in Verbindung gebracht. Den BH im Schrank zu lassen, kann also eine ganz andere – falsche – Signalwirkung haben. Das bestätigen sowohl die Frauen als auch befragte Männer. 48 Prozent denken, dass die Gefahr belästigt oder angegriffen zu werden steigt, wenn Frauen keinen BH tragen. Die Französinnen bestätigten auch, dass sie häufiger sexuell belästigt werden, sobald sie ihre Brüste frei wackeln ließen.
Eine Erkenntnis der Umfrage ist noch schockierender: Viele glauben, es sei eine Art Aufforderung zu sexuellen Handlungen. Daher sind 20 Prozent der Meinung, dass bei sexuellen Übergriffen an Frauen, die keinen BH getragen haben, für den Täter mildernde Umstände gelten sollten.
Alles in allem glauben demnach also viele, dass der BH-Verzicht sexuelle Übergriffe auf Frauen provoziert. Werden erkennbare Brüste und Nippel also von manchen als Aufforderung verstanden? Es scheint so, denn im antiken Griechenland sollten Frauen ihre Brüste mit Stoff bedecken. Im 19. Jahrhundert wurde der Stoff dann wattiert, damit die Brustwarzen ebenfalls verhüllt bleiben – abstehende Nippel galten und gelten als sexuelles Signal.
Mut zum Hängen lassen
Dieses Denken in den Köpfen – sowohl bei Männern als auch bei Frauen – ist falsch und sollte geändert werden. Freie Brüste sind vollkommen natürlich und jede Frau sollte selbst entscheiden können, ob sie einen BH trägt oder nicht – ohne dabei Angst zu haben oder sich wegen ihrer sichtbaren Brustwarzen oder eines erkennbaren Brustansatzes schämen zu müssen.
Sicherlich gibt es die ein oder andere Situation – zum Beispiel beim Sport – bei der ein BH sinnvoll ist. Und auch Frauen mit einer sehr großen Oberweite freuen sich über die zusätzliche Unterstützung durch den Büstenhalter. Aber sonst ist er meist überflüssig: Das Bindegewebe erschlafft nicht schneller. Stattdessen kann sich die Brustmuskulatur besser aufbauen.
Zudem ist der BH-Verzicht ein Zeichen gegen die sexualisierte Welt (#NoBra-Bewegung). Nur, weil Brüste als sinnliches und sexuelles Symbol gelten, ist es kein Grund, dieses schöne Körperteil doppelt und dreifach zu verpacken oder zu verstecken. Demnach müsste auch der Po in Latex-Wäsche gesteckt werden, um bloß jegliche weibliche, sinnliche Rundung zu verstecken.
Das heißt: Mut zum Hängen lassen. Denn ein freier Busen ist kein Signal, keine Aufforderung und kein Modetrend. Es ist natürlich und sollte gerade deshalb als normal anstatt außergewöhnlich gelten.
Jennifer Buchholz, Redakteurin bei t-online.de, schreibt in ihrer Kolumne "Lust, Laster, Liebe" über Liebe, Partnerschaft und Sex.
- Eigene Recherche