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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Tipps vom Experten Abschied vom Konsum: So lernen Sie das Nein sagen
Ob Klimakrise, Plastik im Meer oder ein übervoller Kleiderschrank: Es gibt etliche gute Gründe, die eigenen Gewohnheiten zu überprüfen. Viele entdecken deshalb den Konsumverzicht für sich. Hier erfahren Sie, wie er gelingt.
Mehr als eine Million Tonnen Kleidung entsorgen die Deutschen pro Jahr. Und fast 13 Millionen Tonnen Essen. Wir fahren zu viel Auto und essen zu viel Fleisch. Auch wenn viele von uns das gar nicht wollen. Deshalb entdecken auch bei uns immer mehr Menschen die Lust auf Verzicht.
Schnell stecken sie dabei in einem Dilemma: Man möchte zwar Gutes tun, aber nicht jeder will deshalb gleich sein komplettes Leben umkrempeln. Wie geht man also am sinnvollsten vor? Wann fängt man am besten an? Und ist das nicht alles elitäre Wichtigtuerei von Besserverdienern?
Zumindest könne man es nicht ausschließen, sagt Dr. Edgar Göll. Der Soziologe schränkt aber ein: Wenig kaufen, aber dafür hochwertig – das ist kein Luxusverhalten. Sondern es ist bewusstes Verhalten.
Wie der Abschied vom Konsum gelingt, verrät Göll im Gespräch mit t-online.de.
t-online.de: Flugscham, Minimalismus oder Leben ohne Plastik – der Abschied vom Konsum ist vom Rand der Gesellschaft ein bisschen mehr in Richtung Mitte gerückt. Wie kommt das?
Edgar Göll: Schauen wir doch mal, in welcher Gesellschaft wir leben. In unseren Ländern sind Wachstum und Konsum das Ziel – wenn auch oftmals unausgesprochen. Kaum jemand überlegt dabei: Was brauche ich wirklich? Was macht mich wirklich zufrieden? Das zeigt sich am Konsumverhalten vieler Menschen. Es ist wie ein Taumel. Man kauft sich etwas Neues und stellt nach einiger Zeit fest: Ich brauche noch etwas Besseres, Größeres oder Schnelleres – jedenfalls etwas anderes. Dieses Verhalten reflektieren wir nicht. Das zeigt übrigens auch die Glücksforschung. Eine bestimmte Menge an Konsum brauchen wir natürlich. Aber alles darüber hinaus, womit wir uns das Haus oder die Wohnung vollstellen, bringt keinen Glücksgewinn mehr – höchstens noch für eine kurze Zeit. Und das war’s dann.
Zunehmend scheint diese Erkenntnis um sich zu greifen. Autoren, Influencer und Start-ups bedienen die offenbar große Nachfrage. Ironischerweise wurde Konsumverzicht zum Business. Wer sich für das Thema interessiert, kann sich schnell überwältigt fühlen. Was sind Ihre besten Tipps zum Einstieg?
Die Erfahrung und auch die Forschung zeigen: Mit kleinen Schritten, die auch wirklich machbar sind, kommen Sie am besten voran – ähnlich wie bei einer Diät oder einem Vorsatz für das neue Jahr. Diese Schritte sind Selbstverstärker. Wenn Sie sich ein realistisches Ziel setzen, das nicht so weh tut, dann fehlt Ihnen nicht wirklich etwas. Sie können zum Beispiel auf Fernreisen verzichten, aber weiterhin auf andere Weise verreisen. Oder Sie stellen fest, wie gut Ihnen mehr Bewegung oder eine andere Ernährung tut. Da gibt es viele Möglichkeiten – die einen aber auch überwältigen können. Wichtig ist aber, diesen ersten Schritt überhaupt zu gehen – am besten einen, der einen spürbaren Erfolg mit sich bringt.
Und wann mache ich diesen ersten Schritt? Morgen oder heute?
Am besten heute. Aber versuchen Sie zu erspüren: Was ist mir wirklich wichtig? Worauf kann ich verzichten und worauf nicht?
Den ersten Schritt gehe ich also im eigenen Kopf?
Genau, denn die eigene Einstellung sich selbst gegenüber ist ganz wichtig: Was brauche ich wirklich, was macht mich zufrieden? Und dann ist Verzicht oftmals keine große Anstrengung mehr. Übrigens: Durch unseren vielen Konsum verzichten wir bereits auf viele Dinge. Etwa auf Muße, auf Zeit der Entspannung. Wir müssen wieder lernen, innezuhalten.
Wir verzichten also schon die ganze Zeit – nur eben nicht sehr klug und sinnvoll. Sie sagen auch, Verzicht muss nicht unbedingt weh tun. Das überrascht erstmal. Denn mir entgeht ja etwas, das ich will.
Weh tun ist wohl zu martialisch. Aber es gibt bei Veränderungen eine gewisse Irritation. Man überwindet seine Gewohnheiten und Routinen. Diesen Gewöhnungsprozess, der dann in einem abläuft und der über Jahre entwickelt wurde, in eine andere Richtung zu lenken – das macht Mühe. Es ist Arbeit an sich selbst, ein Entwicklungsschritt. Das ist es, was oftmals so schwerfällt. Weil viele von uns vergessen haben, selbstständig als Individuum zu handeln. Unter Umständen kann dabei auch eine Therapie hilfreich sein.
Nun wird natürlich nicht jeder eine Therapie machen, um ohne Plastik zu leben oder das Auto stehen zu lassen. Wären auch Anreize eine Hilfe, um bestimmte Verhaltensweisen zu überdenken oder zu ändern?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man kann selbst versuchen, sein Verhalten auf bestimmten Gebieten zu ändern. Und das machen ja auch viele von uns. Wenn man aber wirklich stabil bestimmte Verhaltensweisen verändern will, ist es fast unerlässlich, dass man dabei unterstützt wird – von der Familie, von Freunden, Nachbarn oder im Extremfall eben von einem Therapeuten. Allein ist mancher sicherlich schnell überfordert.
Das ist nun das engere Umfeld. Wie sieht es denn im Großen aus?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der es extrem viele Anreize zum Konsum gibt, sich gehen zu lassen und zu tun, was andere tun. Sich davon abzusetzen, dazu braucht es wiederum auch Anreize. Das können zum Beispiel preisliche Anreize sein. Die Politik könnte etwa bestimmte Verkehrsmittel günstiger machen. Oder sie kann Bio-Bauern stärker unterstützen.
Verkehrsmittel sind ein gutes Beispiel. Besonders nach kürzeren Inlandsflügen hört man immer wieder: Wäre die Bahn günstiger, dann würde ich nicht fliegen. Glauben Sie als Wissenschaftler solchen Sätzen?
Wir wissen sogar, dass da etwas dran ist. Denn britische Forscher haben sich angesehen: Wann und wie ändern Menschen ihr Verhalten? Dabei zeigte sich: Wenn bestimmte Umfeldbedingungen stimmen, dann wird es leichter, ein Verhalten zu ändern. Das müssen gar nicht unbedingt große Förderungen sein. Es genügt schon, die Veränderung im Kleinen zu unterstützen. Das beginnt bereits beim Einkauf oder am Schulkiosk: Wo das Obst liegt und wo die Süßigkeiten – schon das macht einen Unterschied beim Konsumverhalten. So ändere ich mich, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. Und mir wird ein ökologisches, nachhaltiges Verhalten erleichtert. Das passiert aber in viel zu wenigen Bereichen.
Sie haben schon die Vorsätze zum Neujahr angesprochen, bei denen der Zeitpunkt natürlich klar ist. Aber generell: Wann ist eine geeignete Zeit für den Anfang? Gibt es zum Beispiel Lebenssituationen, die sich besonders eignen?
Die Fastenzeit zum Beispiel, die für viele einen Konsumverzicht auf Zeit bedeutet, ist in einigen Religionen eine kollektive Aktivität. Man fühlt sich dadurch nicht alleine. Das erleichtert das Fasten. Es gibt also Zeiten, die eine Verhaltensänderung einfacher machen. Darüber hinaus gibt es Situationen in jedem Leben, in denen ohnehin Veränderungen anstehen. Umzüge zum Beispiel. So eine Phase erleichtert auch Veränderungen in anderen Bereichen. Man ist dann ohnehin neu herausgefordert, stellt sich und seine Gewohnheiten vielleicht in Frage. Auch eine Familiengründung ist so eine – sehr weitreichende – Veränderung. Sie verändert bei vielen Menschen die Beziehung zur Welt und erleichtert den Vorsatz, nun bestimmte Dinge anders zu machen. Viele hören dann mit dem Rauchen auf, andere ändern ihre Ernährung. Oder man schafft der Familie einen Hund an. Und schon ist man gezwungen, Gassi zu gehen. Es gibt also die Möglichkeit, Umstände oder Veränderungen zu nutzen, um auch sich selbst zu entwickeln.
Dieser anfängliche Zwang zum Gassi gehen wird ja nach und nach zu etwas Selbstverständlichem. Nach welchem Zeitraum muss ich nicht mehr über meinen Konsum oder eben den Verzicht nachdenken, sondern er ist mir in Fleisch und Blut übergegangen?
Die einfache Antwort lautet: Das ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Dabei kommt es auch darauf an, sich nicht von heute auf morgen ein zu großes Ziel zu setzen. Wer etwa auf Fleisch verzichten will, kann auch anders herangehen. Dann essen Sie zum Beispiel statt regelmäßig Schwein gelegentlich etwas Hühnchen. Man kann sich gewissermaßen eine Brücke in die Zukunft bauen und derweil mal schauen, wie es einem dabei geht. Oftmals wird man dabei nämlich merken, dass bestimmte neue Verhaltensweisen auch guttun. Und das erleichtert die Änderung.
Aber gerade am Anfang tut es nicht immer gut. Einer Ihrer Kollegen sagt: Wer Verzicht ausprobiert, könnte dabei Suchtsymptome erleben. Denn unser Konsum diene zum großen Teil der Belohnung. Bleibt sie aus, geht es uns mies. Wie geht man damit um?
Auch da kommt es auf den Einzelnen und sein Umfeld an. Hier wird es aber komplizierter. Denn hier stellt sich die Frage, welche Gründe dieses Suchtverhalten hatte. Oftmals sind es unbefriedigte Bedürfnisse, die man über einen Umweg – Zigaretten, Alkohol, Süßigkeiten oder anderes – zu stillen versucht. Eine Ersatzbefriedigung also. Wer das überwinden will, muss sich vergegenwärtigen: In welcher Situation befinde ich mich? Wann greife ich zu diesen Dingen, die ich eigentlich gar nicht will? Das ist der Einstieg zu einer wirklichen Änderung. Manche dieser Dinge kann man vielleicht nicht unbedingt komplett abstellen. Trotzdem ist eine Schwäche gar nicht verwerflich. Wer also auf Fleisch verzichten will und dann aber doch mal eine Bratwurst isst, sollte sich deshalb keine Vorwürfe machen.
Konsumverzicht bedeutet oftmals: Ich kaufe nicht mehr das billigste Produkt, meide vielleicht sogar bestimmte Läden oder Ketten. So kann der Verzicht ganz schön teuer werden. Ist das Ganze also ein elitäres Konzept für Besserverdiener, die keine anderen Sorgen haben?
Das kann es sein. Man kann ja beobachten, wer sich zu diesem Thema äußert: Das sind Menschen aus der Mittelschicht und mit einer bestimmten Bildung. Menschen, die sich diesen Lifestyle leisten. Man kann aber auch noch etwas anderes beobachten. Gelegentlich sieht man an Leuten mit weniger Geld, dass sie Dinge kaufen, die sie nicht wirklich brauchen. Und so billig, dass diese Dinge nach kurzer Zeit im Keller landen. Oder auf dem Müll. Generell ist diese "Billig geht auch"-Haltung wahrscheinlich fatal – auch in finanzieller Hinsicht. Denn wir wissen eindeutig, dass in vielen Fällen – Waschmaschinen und andere Geräte – das Billige nicht das Bessere ist. Die Lebensdauer ist hier meistens viel geringer. Ich würde deshalb sagen: Weniger einzukaufen und dafür hochwertig, ist kein Luxusverhalten, sondern es ist bewusstes Verhalten.
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Aber wenn die Waschmaschine kaputt geht und das Geld für eine neue fehlt – dann sieht die Sache schon etwas anders aus.
Natürlich. Hier spielt aber auch Politik wieder eine große Rolle. Wenn beispielsweise die Löhne und die Arbeitslosenleistungen sehr niedrig sind, dann kann sich natürlich nicht jeder die langlebige und sparsame, aber eben auch teurere Waschmaschine leisten. Das kann man aber nicht denjenigen in die Schuhe schieben, die für eine nachhaltige Lebensweise eintreten. Sie sind nicht schuld an der sozialen Situation im Land.
Herr Dr. Göll, vielen Dank für das Gespräch.