Eine Aussteigerin erzählt Zwangsprostitution: "Das ist kein Job, das ist ein böser Traum"
Zehn Freier am Tag, fünf Jahre lang - danach war Vivien (Name geändert) fertig. Ihr Traum vom großen Geld, mit dem Bekannte sie im Alter von 19 Jahren von Rumänien nach Deutschland gelockt hatten, wurde im Stuttgarter Leonhardsviertel zum Alptraum. Sie entschließt sich zum Ausstieg.
Zweieinhalb Jahre danach sitzt die heute 27-Jährige in der Beratungsstelle Café La Strada im Rotlichtviertel und erzählt ihre Geschichte.
Ihr starker Wille habe ihr geholfen, auszubrechen. Sie habe ihrem Zuhälter gedroht, zur Polizei zu gehen, wenn er sie nicht in Ruhe lasse - und die Beratungsstelle angesteuert. An Vivien haben über all die Jahre die Besitzer von Etablissements verdient und ihr Zuhälter. Für sie fiel nichts vom Gewinn ab: "Ich habe mich umsonst kaputt gemacht."
Gesetze gegen Zwangsprostitution konsequenter anwenden
Zwangsprostitution - Verbände von Bordellbetreibern und Sexarbeiterinnen mögen den Begriff nicht. Sie verurteilen aber, was dahintersteckt. Wer unter Zwang arbeite, sei Opfer von Menschenhandel, Missbrauch und Nötigung, sagt Stephanie Klee vom Bundesverband sexuelle Dienstleistungen, der vor allem Bordellbetreiber vertritt. "Die Polizei müsste die Gesetze anwenden, die es schon gibt." Wer Frauen zur Prostitution zwingt, kann bereits heute bestraft werden.
Frauen sollten nicht wie Täter behandelt werden
Die Vorsitzende des Berufsverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen, der im Namen der Sexarbeiterinnen spricht, fordert vor allem ein sensibleres Vorgehen der Polizei. Bei Razzien im Rotlichtviertel behandle die Polizei die Frauen ihrer Erfahrung nach oft wie Täter wegen vermuteter Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht oder Drogenbesitz.
"Man braucht eine konsequente Justiz und eine repressive Polizei, wenn man nach Tätern sucht, aber nicht bei der Suche nach Opfern von Menschenhandel", sagt Tanja Sommer. Es brauche mehr Beamte, die versuchten, das Vertrauen von Frauen in der Branche zu gewinnen. Nur so könne man herausfinden, wer unter körperlichem oder psychischem Zwang arbeite, und gegen Ausbeutung vorgehen.
"Ich konnte nicht weg. Ich wusste nicht wohin"
Ausbeutung. Vivien weiß, was das heißt. Mit dem, was sie verdiente, musste sie täglich ein 150 Euro teures Zimmer zahlen. Der Zuhälter brauchte das Geld für seine Wohnung, für den Kaffee, den er in der Kneipe trank, während sie auf der Straße stand, und für seine Unterhaltung an Spielautomaten. Manchmal, an den guten Tagen, konnte sie selbst etwas ausgegeben, sich eine neue Bluse kaufen. Das Gefühl dabei sei schal gewesen. "Das Geld war schmutzig." Hat sie nie ans Weglaufen gedacht? "Ich konnte nicht wegrennen. Ich wusste nicht wohin, hatte kein Geld, keinen Pass, konnte die deutsche Sprache nicht."
Am Eingang zur Beratungsstelle, für die Vivien inzwischen als Streetworkerin arbeitet, liegen rote Postkarten. Sie sind Teil einer umstrittenen Kampagne der Stadt Stuttgart gegen Zwangsprostitution. Auf den Karten stehen Sprüche wie "Die Würde des Menschen ist auch beim Ficken unantastbar". Kritik an der Wortwahl gab es von der Kirche, aber auch aus der CDU und der SPD im Land.
Für 30 Euro "jede erdenkliche Sexpraktik"
Vivien gefällt das. "Man soll Freiern beibringen, mit den Frauen umzugehen", sagt sie. 70 Prozent der Männer seien "einfach nur ekelhaft" und wollten rücksichtslos jede erdenkliche Sexpraktik.
"Die denken, dass sie was gekauft haben. Als ob man in den Laden geht, ein Kilo Kartoffeln kauft und Salat daraus macht." Wenn sie sich verweigert habe, sei sie beschimpft worden. "Bist du aus Gold?", hätten die Männer gefragt und ihr Nein nicht akzeptiert. "Und das alles für 30 Euro. Du fühlst dich nicht als Mensch."
Freier mit in die Verantwortung ziehen
In Deutschland sollen Freier bald mit einer Strafe rechnen müssen, wenn sie die persönliche oder wirtschaftliche Zwangslage oder die Hilflosigkeit eines Menschen ausnutzen. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde im April vom Bundeskabinett beschlossen. Vivien und die Leiterin des Café La Strade, Sabine Constabel, sehen dadurch das Recht der Frauen gestärkt. In der aktuellen Rechtslage sei der Freier im Vorteil. "Der sagt: Ich habe bezahlt, ich habe nichts Verbotenes gemacht", meint Vivien.
Dabei gebe es einige Hinweise, die auf eine Zwangsprostituierte hindeuteten. "Wenn eine Frau blaue Flecken hat, weil sie vom Zuhälter geschlagen wird, wenn sie alles macht, wenn sie ungepflegt und schlecht angezogen ist oder wenn sie auf der Straße steht", sagt die 27-Jährige.
Sie ist inzwischen selbstbewusster geworden, hat aber noch mit der Vergangenheit zu kämpfen. "Jedes Mal, wenn ich die Leonhardstraße hochlaufe, fühle ich mich müde, verhungert, verzweifelt." Wie in den schlimmsten Zeiten des Alptraums, der fünf Jahre lang ihr Leben war.