Experten streiten über Bildung Was sich am deutschen Schulsystem verändern muss
Bleiben in unserem Schulsystem zu viele Schüler auf der Strecke? Bildungsexperten sorgen sich um die vielen jungen Menschen, die unzureichend ausgebildet die Schulen in Deutschland verlassen - und beschreiben Alternativen für gerechtere und kreativere Schulformen.
Gerade hat wieder eine Studie eine Schwäche des deutschen Schulsystems aufgezeigt: Zehntausende Schüler werden jährlich auf eine niedrigere Schulform herabgestuft und damit demotiviert. Individuelle Förderung heißt das Gegenmittel - doch damit klappt es offenbar nicht so recht. Etliche Bildungsforscher, schreibt die Soziologin Jutta Allmendinger, setzen daher auf "eine Schule für alle", die keinen per Rückstufung zum Verlierer stempelt.
Die Berliner Schulleiterin Margret Rasfeld schwört auf eine Schulkultur, die Motivation fördert und Begeisterung für die Lerninhalte weckt. Die beiden Bildungsexpertinnen haben nun ganz unterschiedliche Bücher vorgelegt. Aber beide werben informativ, gut lesbar und leidenschaftlich für Reformen, die die Schule in Deutschland fit fürs 21. Jahrhundert macht.
"Schulaufgaben": Kinder vor Bildungsarmut schützen
In ihrem Buch "Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden" analysiert Allmendinger entlang der Geschichte von vier Freunden die Schaltstellen im gegliederten Schulwesen.
Gemeinsam besuchen Laura, Erkan, Alex und Jenny zuerst den Kindergarten, mit der Einschulung aber müssen sie sich trennen. Ihre Bildungswege führen sie je nach Elternhaus weit auseinander: Alex in die internationale Bildungselite, Jenny in den sozialen Brennpunkt. Die vier Freunde stehen stellvertretend für viele: Die lernschwache Laura besucht eine Förderschule, Erkan stammt aus einer türkischen Familie, Alex kommt aus einem Akademikerhaushalt, Jennys Mutter ist alleinerziehend. Allmendinger beschreibt die Tücken bei den Übergängen von der Krippe über die Kita bis Schulende. Ihre Messlatte ist dabei "der bedingungslose Schutz vor Bildungsarmut".
Allmendinger fordert gemeinsames Lernen bis zum 14. Lebensjahr
Als Konsequenz fordert die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) Strukturreformen: ein längeres gemeinsames Lernen mindestens bis zum Alter von 14 Jahren sowie Kooperation von Bund und Ländern bei der Bildung. Trotz Widerstands vieler gegen eine grundlegende Schulreform beharrt sie darauf: "Wir müssen die Systemfrage nochmals stellen."
Soziale Herkunft beeinflusst zu stark die Schullaufbahn
Die Schule verstärke die ungleichen Startchancen der Kinder sogar noch, argumentiert die Soziologin. Die internationalen PISA-Studien bestätigten erneut: In Deutschland ist der Bildungserfolg besonders stark abhängig von der sozialen Herkunft. Allmendinger verweist auf das PISA-Siegerland Finnland und den dortigen Umbau des dreigliedrigen Schulsystems zu "einer Schule für alle" in den 1970er Jahren.
"Niemand wird zurückgelassen": Schulreform in Finnland als Vorbild
Der deutsche Bildungsexperte Rainer Domisch (1945 - 2011), der an der Schulreform in dem skandinavischen Land mitwirkte, und Anne Klein schildern in dem Buch "Niemand wird zurückgelassen - Eine Schule für alle" nicht nur den Alltag in der neuen Schule, sondern auch den politischen Prozess dahin. Demnach gab es massive Ängste vor allem bei den Gymnasiallehrern und akademisch gebildeten Eltern. Doch der Konflikt wurde aus dem Parteienstreit herausgehalten und an dem Konsens für eine grundlegende Schulreform festgehalten. Ein Grund: In Finnland wird Bildung als demokratisches Grundanliegen begriffen.
"Neukölln ist überall": Kindergartenpflicht, Ganztagsschulen und Sanktionen
Allmendinger fordert für Deutschland eine Bildungspolitik aus einem Guss. Finanzschwache Länder und Brennpunktschulen müssten mehr Geld bekommen. Einen knallharten Report aus einem Brennpunktviertel liefert der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, mit seinem Buch "Neukölln ist überall". Er beschreibt die Bildungsarmut des Stadtteils, in dem sehr viele Ausländer leben und eine Parallelgesellschaft entstanden ist. Er berichtet, wie andere Städte, zum Beispiel Rotterdam oder London, mit ähnlichen Problemen umgehen. Der SPD-Politiker plädiert für Kindergartenpflicht, Ganztagsschulen und Sanktionen. So möchte er die Auszahlung von Sozialleistungen an die Eltern davon abhängig machen, ob sie für den Schulbesuch ihrer Kinder sorgen.
"EduAction": ein Lob auf die Gemeinschaftsschule
Allmendinger verweist auch auf positive Ansätze hierzulande, wie die Arbeit von Margret Rasfeld, Leiterin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Die Schule mit den Klassen sieben bis zehn gehört zu den 16 Gemeinschaftsschulen, die in Berlin zum Schuljahr 2008 starteten. In ihrem Buch "EduAction - Wir machen Schule" schildern die Praktikerin Rasfeld und der Soziologe Peter Spiegel Konzept und Alltag der Schule. Diese gilt bereits vielen Lernexperten wie dem Hirnforscher Gerald Hüther als Modell, wie engagierte Lehrkräfte und Eltern schon jetzt Schule besser gestalten können. Das Autorenpaar liefert zudem eine Fülle an Tipps und Internet-Links.
Zusammen geben die vier Bücher einen guten Überblick über die zentralen Herausforderungen der Bildungspolitik: mehr Gerechtigkeit zu schaffen, das Potenzial aller Kinder zu fördern - auch mit Blick auf die Innovationsfähigkeit Deutschlands - und den wachsenden Anteil von Migrantenkindern erfolgreich durch Kita und Schule zu bringen.