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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte zu verschollenem U-Boot "Sie blicken dem Tod buchstäblich ins Auge"
Auf einem Tauchgang zur "Titanic" sind mehrere Menschen verschollen. Wie es ihnen geht, ist Spekulation. Was medizinisch passiert, erklärt ein Psychologe.
Fünf Vermisste in einem privaten U-Boot in der Nähe des Wracks der "Titanic", eingeschlossen auf kleinstem Raum bei zur Neige gehendem Sauerstoff – allein die Vorstellung löst bei vielen Menschen Beklemmungen aus.
Was in den Betroffenen gerade vorgeht, kann man sich kaum vorstellen. Was es aus medizinischer Sicht bedeutet, nicht aus einem geschlossenen Raum hinauszukönnen, erklärt Psychologe Dr. Christian Lüdke t-online.
"Blicken dem Tod buchstäblich ins Auge"
"Für die eingeschlossenen Menschen in dem U-Boot ist das eine völlige seelische Ausnahmesituation. Sie erleben Kontrollverlust, sind nicht mehr handlungsfähig, das grundlegende Sicherheitsgefühl ist massiv erschüttert. Gleichzeitig blicken sie dem Tod buchstäblich die ganze Zeit ins Auge", sagt Lüdke. Das führe zu enormem Stress, "einer schweren Traumatisierung".
Niemand weiß, ob die fünf Menschen an Bord des knapp sieben Meter langen Tauchbootes "Titan", das laut Betreiber OceanGate Expeditions bis zu 4.000 Meter tief tauchen kann, ein Notfalltraining bekommen haben.
Dass keiner von ihnen klaustrophobisch veranlagt war, davon kann man ausgehen. Sonst hätten sich die Passagiere wohl nicht für den riskanten Tauchgang im Nordatlantik entschieden. Sie wollen mehr über Klaustrophobie erfahren? Dann lesen Sie hier weiter.
Professionelle U-Bootfahrer, Seeleute oder Taucher werden auf Notfälle trainiert. Eine solche mentale Vorbereitung kann eine höhere Belastbarkeit fördern. Die vorliegende Situation hingegen ist laut Lüdke nicht planbar. Normalerweise schalten sich bei Menschen in Extremsituationen instinktiv zwei Mechanismen ein: Kampf oder Flucht. Lüdke: "Beide sind hier nicht möglich."
Wenn Nahrungs- und Sauerstoffmangel hinzukommen, reagiere der Körper mit Panikattacken und Angststörungen, sagt Lüdke. "Man sieht die Ausweglosigkeit, die Mittel werden knapp." Hier berichtet ein Deutscher, der selbst schon mit der "Titan" tauchte.
"Körper schaltet um in den Überlebensmodus"
Da der Sauerstoff in der Kapsel nach Betreiberangaben für 96 Stunden reicht, ist davon auszugehen, dass dieser spätestens Donnerstagmittag (unserer Zeit) nahezu vollständig verbraucht ist. Die Chancen auf eine Rettung werden immer geringer. Nachdem in der Nacht zu Mittwoch (Ortszeit) Klopfgeräusche registriert worden waren, konnten die Ortungsmissionen intensiviert werden.
Das Suchgebiet rund 650 Kilometer vor der Küste der kanadischen Provinz Neufundland ist laut US-Küstenwache allerdings rund 20.000 Quadratkilometer groß. Bleibt noch Hoffnung?
Wenn die Menschen in dem U-Boot noch am Leben sind, könnte medizinisch gesehen laut Lüdke Folgendes passieren: "So lange man noch am Leben ist, schaltet der Körper um in eine Art Überlebensmodus. Das heißt also, man ist durchaus in der Lage, seine Gefühle abzuschalten und immer noch auf Rettung zu hoffen."
Das Unglück
Am Sonntagmorgen hat das Unterseeboot "Titan" des Privatunternehmens OceanGate Expeditions mit der fünfköpfigen Besatzung den Tauchgang zum Wrack der "Titanic" angetreten. Das 1912 gesunkene Schiff liegt in 3.800 Metern Tiefe auf dem Grund des Atlantiks, etwa 650 Kilometer vor der Küste Neufundlands (Kanada). Nach etwa einer Stunde und 45 Minuten brach der Kontakt zwischen der Maschine und dem kanadischen Forschungs- und Mutterschiff "Polar Prince" (Polarprinz) ab, wie die US-Küstenwache mitteilte. Der Tauchgang selbst dauert eigentlich nur wenige Stunden. Seitdem gibt es keinen Kontakt zu dem Tauchboot. Klopfgeräusche sind die einzige Spur der Küstenwache.
Sollte die Rettung noch gelingen, werden die Folgen sicherlich schwer sein. Laut Lüdke könnte es zu langfristigen Belastungsstörungen kommen. "Wobei die fünf Menschen eine Schicksalsgemeinschaft bilden und man sagt ja, geteiltes Leid ist halbes Leid. Das heißt also, die Verarbeitung könnte gelingen. Das würde aber Monate andauern und Ruhe, Abstand, Ablenkung und Stabilität erfordern."
- telefonisches Interview mit Psychologe Dr. Christian Lüdke
- Eigene Recherche