Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Alarmierende Studie zum Golfstrom Droht Europa der Ausfall der "Fernheizung"?
Eine Studie zum vermeintlich kurz bevorstehenden Kollaps des Golfstroms erregt Aufsehen – die Auswirkungen wären fatal. Doch Klimaforscher äußern heftige Kritik.
Eine Studie lässt aufhorchen: Dänische Wissenschaftler wollen berechnet haben, dass der Golfstrom schon Mitte dieses Jahrhunderts kollabieren könnte. Die Folgen wären fatal: Die Meeresströmung gilt als Klimamaschine – sollte sie ausfallen, könnte das unberechenbare Folgen für Natur und Mensch auf beiden Seiten des Atlantiks haben. Doch ist das aktuell wirklich zu befürchten? Andere Klimaforscher haben erhebliche Zweifel an den Erkenntnissen der Dänen – eine solche Behauptung sei nicht haltbar, heißt es. Entwarnung können sie trotzdem nicht geben.
Die Studie des Klimaphysikers Peter Ditlevsen und der Statistikerin Susanne Ditlevsen erschien am Dienstag im Fachjournal "Nature Communications". Beide lehren und forschen an der Universität Kopenhagen. Sie warnen: Schreite die Klimakrise so voran, wie es aktuell als am wahrscheinlichsten gilt, werde die atlantische Umwälzzirkulation wohl schon Mitte dieses Jahrhunderts zusammenbrechen. Die Folgen wären auch in Deutschland deutlich zu spüren.
Golfstrom, Golfstromsystem, Umwälzzirkulation: die Unterschiede
Die atlantische Umwälzzirkulation durchzieht den gesamten Atlantik. Sie funktioniert im Prinzip wie eine Pumpe: An der Wasseroberfläche fließt warmes, salzreiches Wasser nach Norden und kühlt dort in Polnähe ab. Dadurch gewinnt es an Dichte, wird schwerer und sinkt ab. Im Gegenzug fließt in mehreren Kilometern Tiefe kaltes, salzärmeres Wasser nach Süden zurück. Aufgrund des Antriebs durch Temperatur und Salzgehalt spricht man auch von einer thermohalinen Zirkulation.
Der bekannteste Teil dieser Umwälzpumpe ist der Golfstrom: Entlang der Küste Nordamerikas fließt warmes Wasser, angetrieben vom Wind, gen Norden und dann quer durch den Atlantik – und bringt so mildere Temperaturen nach Europa. Ohne ihn sähen die europäischen Winter eher so aus wie beispielsweise in Kanada – mit Temperaturen, die vielerorts im zweistelligen Minusbereich lägen.
Könnte das Golfstromsystem kippen?
Das Problem: Das Golfstromsystem ist eines der sogenannten Kippelemente des Planeten. Mit zunehmender Erhitzung der Erde könnte sich das Strömungssystem massiv abschwächen – ein Zusammenbruch hätte schwere Folgen für das Klima auf der Nordhalbkugel.
Der Weltklimarat, ein Zusammenschluss von Klimaforschern unter dem Dach der Vereinten Nationen, geht davon aus, dass eine Abschwächung in diesem Jahrhundert sehr wahrscheinlich ist. Einen abrupten Zusammenbruch befürchtet er in den kommenden Jahrzehnten aber nicht – anders als nun die Autoren der Studie.
Kollaps im Jahr 2057? "Das halte ich für Spekulation"
Ziel der dänischen Forscher war es, den Zeitpunkt für einen möglichen Kollaps des Golfstromsystems zu berechnen. Ihre Grundlage hierfür: Die Daten zu den Oberflächentemperaturen im Atlantik zwischen 1870 und 2020. Aus ihrer statistischen Analyse schließen sie darauf, dass das Strömungssystem im Ganzen oder in Teilen ab 2025 jederzeit zusammenbrechen könnten. Ihre Prognose für den Kollaps: Das Jahr 2057. Ab 2095 sei das Zusammenbrechen des Strömungssystems sogar so gut wie sicher – vorausgesetzt, ihre Annahmen seien korrekt, räumen die Studienautoren ein.
Doch genau daran haben andere Klimaforscher erhebliche Zweifel. So erklärt Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, die Annahmen der Dänen seien sehr stark vereinfacht. Er hat in der Vergangenheit bereits selbst zum Golfstromsystem geforscht. "Unsere eigenen Analysen zeigen, dass die Details der Annahmen große Auswirkungen auf den Zeitpunkt des Kippens haben", sagt er. Die verwendete Berechnung sei eine "grobe Vereinfachung" – und auch die verwendeten Temperaturdaten seien mit großen Unsicherheiten behaftet.
Sein Fazit: Berücksichtigt man diese Einschränkungen, besage die Studie lediglich, dass das Strömungssystem langsamer und instabiler geworden ist – beides sei bereits seit mehreren Jahren bekannt. "Alles darüber hinaus halte ich ehrlich gesagt für Spekulation", so Boers in Hinblick auf den berechneten Kollaps im Jahr 2057. "Die Autoren haben sich hiermit zu weit aus dem Fenster gelehnt und die relevanten Unsicherheiten nicht genug berücksichtigt."
Studienergebnis "steht auf tönernen Füßen"
Ähnlich sieht es Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Die Aussage, es würde in diesem Jahrhundert zum Kollaps des Golfstromsystems kommen, "steht auf tönernen Füßen", sagt er. Auch er stellt die Grundannahmen der Studie infrage – und das theoretische Verständnis der Autoren. Es gebe Zweifel daran, ob man Messungen der Oberflächentemperatur überhaupt als Ersatz für Daten zum Golfstromsystem verwenden könne, erklärt der Klimaforscher. "Auch hier geht die Arbeit völlig unzureichend auf die Ungewissheiten ein."
Johanna Baehr von der Universität Hamburg kritisiert das ebenfalls: "Damit wird die Studie der Komplexität des Klimasystems in vielerlei Hinsicht nicht gerecht." Die Studie halte nicht, was sie verspricht.
Kipppunkt "viel näher, als wir dachten"
Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung formuliert seine Kritik hingegen vorsichtiger: "Wie immer in der Wissenschaft liefert eine einzelne Studie nur begrenzte Beweise", sagt er. Es bestehe noch immer große Unsicherheit darüber, wo der Kipppunkt des Golfstromsystems liegt. Aber die neue Studie ergänze Beweise dafür, "dass er viel näher ist, als wir noch vor ein paar Jahren dachten", so der Physiker.
Man könne nicht ausschließen, "dass wir bereits in den nächsten ein oder zwei Jahrzehnten einen Kipppunkt überschreiten", sagt Rahmstorf. Er glaubt, die Auswirkungen der Klimakrise auf das Golfstromsystem werden deutlich unterschätzt – denn eine Abschwächung lässt sich schon seit Jahrzehnten beobachten. "Dies ist kein Alarmismus, sondern alarmierend", schreibt er in einem Beitrag für den "Spiegel". Egal wie groß die Unsicherheiten seien – auch zehn Prozent Wahrscheinlichkeit seien für eine solche Katastrophe noch zu viel.
- Schleichende Gefahr aus allen Richtungen: Klimaforscher Rahmstorf richtet Appell an die Politik
Vor dem Kippen des Strömungssystems warnen Forschende bereits seit Jahren – denn aktuell ist es schwächer als in den vergangenen tausend Jahren. Wie groß dabei der Einfluss des Menschen ist, ist umstritten: 2022 kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass sich die Beobachtungen noch im natürlichen Schwankungsbereich bewegen könnten. In diesem Jahr konnte eine andere Studie zeigen, dass der langfristige Trend zur Abschwächung wohl auf den menschengemachten Klimawandel zurückzuführen ist.
Welche Folgen hätte ein Kollaps?
Für das Klima in Deutschland und ganz Europa bedeutete eine weitere Abschwächung oder gar ein – wohl nicht zu befürchtender – Kollaps des Golfstroms: Winterstarre. Denn mit der Strömung fiele auch die "Fernheizung" des Kontinents aus, es würde zwei bis fünf Grad kälter, trotz der Erderhitzung. Europa würden deutlich stärkere Stürme drohen, Regengebiete sich verschieben – in Regionen, deren Ökosysteme dafür nicht ausgelegt sind.
Für das Leben im Atlantik wäre eine Schwächung oder ein Kollaps des Strömungssystems noch folgenschwerer: Durch das Absinken des kalten Wassers in Polnähe werden die tieferen Schichten des Ozeans mit Sauerstoff versorgt. Versiegt diese Zufuhr, ersticken Tiere wie Pflanzen. Und: Fließt das Wasser nicht mehr nach Süden ab, würde der Meeresspiegel im Nordatlantik deutlich ansteigen – auf bis zu einen Meter zusätzlich, warnt Stefan Rahmstorf im "Spiegel".
Das Fatale: Es gibt sogenannte Rückkopplungseffekte, die diese Prozesse noch verstärken. Durch das Abschmelzen der Eiskappen an Nord- und Südpol gelangt mehr Süßwasser in den Atlantik und senkt dort den Salzgehalt. Unterschiedliche Salzkonzentrationen sind – neben der Wassertemperatur – der wichtigste Treiber der Strömung: Sie schwächt sich so weiter ab. Durch die Folgen einer schwächeren Umwälzströmung, insbesondere den Sauerstoffmangel, kann der Ozean aber weniger CO2 aufnehmen. Denn auch die Algen, die das klimaschädliche Gas binden, brauchen Sauerstoff. So verbleibt mehr CO2 in der Luft. Und so verstärkt sich die Erderhitzung weiter, mehr Eis schmilzt – es entsteht ein Teufelskreis.
Studie "braucht es zur Dramatisierung nicht"
Der Potsdamer Klimaforscher Rahmstorf appelliert daher: Um die Risiken klein zu halten, müsse man sehr schnell die Abhängigkeit von Kohle, Öl und fossilem Gas verringern und sich baldmöglichst komplett davon befreien. Nur so lasse sich das Klima stabilisieren.
Und auch seine Kollegin Johanna Baehr sagt: Eine mathematische Studie wie die der Dänen "braucht es zur Dramatisierung nicht". Man sehe auch so bereits eine ganze Reihe von Folgen der Klimakrise. Die Treibhausgasemissionen müssten drastisch reduziert werden, "je früher, desto besser", erklärt die Wissenschaftlerin aus Hamburg. "Jetzt zu handeln, macht den Unterschied zwischen 1,5 oder 2 oder 3 Grad Erderwärmung, mit einschneidenden Konsequenzen für uns alle."
- nature.com: "Warning of a forthcoming collapse of the Atlantic meridional overturning circulation"
- Science Media Center: "Kritik an Studie zum baldigen Kollaps des Golfstroms"
- sueddeutsche.de: "Kritik an Studie zu Golfstrom-Kollaps"
- realclimate.org: "What is happening in the Atlantic Ocean to the AMOC?"
- spiegel.de: "Steht der Nordatlantik vor dem Kipppunkt?"